Neuburger Rundschau

Wenn das Baby nur noch schreit

Jedes fünfte Baby weint überdurchs­chnittlich viel. Häufig sind frisch gebackene Eltern mit der neuen Situation völlig überforder­t. Neue Schreibaby-Aufkleber sollen die Familien entlasten

- VON SABRINA LERETZ

Neuburg Ganz ruhig liegt die Puppe im Arm von Iris Lang. Sie weint nicht, sie strampelt nicht, sie schreit nicht. Normalerwe­ise hat es die Psychother­apeutin mit echten Babys zu tun – mit Babys, die mit dem Schreien gar nicht mehr aufhören. Lang berät in der Schreibaby-Ambulanz in den Kliniken St. Elisabeth die Eltern dieser Babys. Die Puppe kommt in jedem ihrer Gespräche zum Einsatz. An ihr demonstrie­rt die Therapeuti­n den richtigen Umgang mit Schreibaby­s.

Jedes fünfte Baby weint überdurchs­chnittlich viel. Oft sind Eltern mit der Situation völlig überforder­t. Immer wieder ist von Eltern zu lesen, die ihre Kinder aus lauter Verzweiflu­ng mit Schütteln ruhig stellen – nicht selten das Todesurtei­l für den Säugling. Die Koordinati­onsstellen frühe Kindheit (Koki) des Jugendamts möchten dem vorbeugen – mit Aufklebern, die in jedes Kinder-Untersuchu­ngsheft eingeklebt werden. Schon seit Längerem gibt es die Aufkleber in Eichstätt und Ingolstadt. Jetzt soll Neuburg nachziehen.

Auf dem Sticker finden Betroffene Tipps, wie sie ihr Kind beruhigen können, und wichtige Telefonnum­mern von Beratungs- und Hilfsangeb­oten. „Für viele Eltern von Schreibaby­s ist es eine große Überwindun­g, sich Hilfe zu holen“, sagt Sozialpäda­gogin Steffi Vicelja, die den Aufkleber entwickelt­e. Als Sozialpäda­gogin ist sie bei Koki die Ansprechpa­rtnerin für Schwangere und Eltern von Kindern bis zum dritten Lebensjahr. „Oft wissen betroffene Eltern nicht einmal, an wen sie sich wenden können.“

Dr. Stephan Seeliger, Chefarzt der Kinderklin­ik, unterstütz­t das Aufkleber-Projekt in enger Zusammenar­beit mit Koki. Er kennt die Ängste frisch gebackener Eltern. „Manche Kinder schreien mehr, als ihre Eltern es erwarten. Ob sie tatsächlic­h häufiger weinen als andere Babys, ist die Frage. Aber für die Familie bleibt es eine Belastung.“Und da müsse man ansetzen und Strategien entwickeln.

In der Schreibaby-Ambulanz sucht Iris Lang täglich mit Eltern nach gemeinsame­n Lösungen. Um das Baby zu beruhigen, helfe oft schon die richtige Tragehaltu­ng – die sie mit der Puppe demonstrie­rt. „Wenn das Baby schreit, neigen viele Eltern dazu, die Haltung zu verändern“, sagt Lang. Doch das habe oft den gegenteili­gen Effekt: Das Baby bekomme einen neuen Reiz und weine noch mehr. Am besten behalte man eine Haltung bei. „Es ist gar nicht so einfach, das auszuhalte­n, wenn das Baby permanent schreit“, sagt sie.

In den meisten Fällen weine das Schreibaby, weil es übermüdet sei. Und vor lauter Weinen komme es nicht zum Schlafen – ein ständiger Kreislauf. Mit einem Schlaftage­buch bekomme man das Problem in der Regel in den Griff. Das entwickelt die Psychother­apeutin gemeinsam mit den Eltern.

Ab und zu greift Lang auch zu unkonventi­onellen Maßnahmen: „Manchmal reicht es schon, mit Mama und Baby im Kinderwage­n einen Spaziergan­g über das Klinikgelä­nde zu machen – das hilft beim Einschlafe­n.“

In ihrer Beratung klärt Lang die

Eltern auch darüber auf, warum ihr Baby sich so schwer beruhigen lässt. „Schreibaby­s haben eine Regulation­sstörung: Sie tun sich schwer, Reize zu filtern“, sagt sie.

Aus medizinisc­her Sicht gebe es keine allgemeing­ültige Antwort auf die Frage, warum manche Babys an einer Regulation­sstörung leiden und mehr schreien als andere, sagt Dr. Seeliger. Im Internet kursieren etliche Pseudo-Ursachen. „Es wurde schon diskutiert, ob es mit dem Geruch der Muttermilc­h zusammenhä­ngt. Aber das konnte nie bewiesen

werden.“Welche Ursachen die Regulation­sstörung bei Schreibaby­s auch haben mag, die Koordinati­onsstelle Koki möchte mit den neuen Aufklebern im Untersuchu­ngsheft deutlich machen: Die Eltern trifft keine Schuld. „Niemand muss sich schämen, Hilfe zu holen“, sagt Sozialpäda­gogin Steffi Vicelja. Trotzdem sei am Telefon auch eine anonyme Beratung möglich.

Überforder­te Eltern sollten sich nicht davor scheuen, auch bei kleinen Problemen anzurufen – „bevor sie die Nerven verlieren.“

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Fotos: Sabrina Leretz Iris Lang ist Psychother­apeutin in der Schreibaby Ambulanz der Kliniken St. Elisabeth. Sie berät überforder­te Eltern, wenn sich das Baby nicht beruhigen lassen will. Mit einer Puppe demonstrie­rt sie unter anderem die richtige Tragehaltu­ng von...
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Dr. Stephan Seeliger, Sozialpäda­gogin Steffi Vicelja, Jugendamts­leiter Sebastian Karl und Sanela Maier vom Klinik Sozialdien­st (von links) mit dem Schreibaby Aufkleber.

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