In der Welthauptstadt des Rauschs
Premiere Passend zur Wiesn bringen die Münchner Kammerspiele „Dionysos Stadt“heraus. Ein zehnstündiges Theaterspektakel, das zurück zu den Anfängen des Schauspiels führt
München Die Münchner Kammerspiele warnen: Für „Dionysos Stadt“veranschlagen Regisseur Christopher Rüping und sein Team zehn Stunden. Dionysos war der Gott des Weines, selbstredend, dass die Premiere zur Wiesn stattfinden musste – wenn München Welthauptstadt des Rauschs ist. Der Prolog findet im Regionalzug statt, wenn dem Gott des Biers mit Trinkspielen vorglühend gehuldigt wird. Die Dionysien heute finden im Bierzelt statt. Die Dionysien im antiken Athen fanden im großen Amphitheater statt. Gespielt wurden damals fünf Tage lang jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel pro Tag. Theater total.
Nach 2500 Jahren Bühnengeschichte wirkt das Theater heute zahm. Folgerichtig startet der Abend mit einer Gebrauchsanleitung: Gespielt werden vier Blöcke. Es gibt drei Pausen, draußen wartet ein Food-Truck. Der Schauspieler Nils Kahnwald steckt sich eine Zigarette an, erklärt dem Publikum, dass szenisches Rauchen sei. Für solche Späße ist an einem zehnstündigen Theatertag reichlich Zeit. Mit Unterhaltung, Show und SlapstickEinlagen geizen Rüping und seine acht Darsteller wahrlich nicht.
Während das Publikum noch lacht, wird es sanft zurückversetzt in die Zeit der alten Mythen. Auftritt Prometheus, der den Menschen gegen Zeus’ göttlichen Willen das Feuer bringt. Dann zeigt sich Zeus (Achtung: Platos Höhlengleichnis): Zuerst sitzt er, den Blicken der Zuschauer entzogen, in einer Höhle im Bühnenboden. Er geht mit Prometheus ins Strafgericht. „Du gibst ihnen das Feuer, sie bauen daraus Bomben und führen Krieg gegen uns. Warum hast du das getan?“
Teil zwei: Von Prometheus, dem Zivilisationsstifter, geht es weiter. Die Menschen führen Krieg, schon zehn Jahre lang, vordergründig um eine Frau namens Helena. Auf den Mythos folgt Homers Epik. Menschennamen tauchen auf, 3000 Jahre lang vor dem Vergessen bewahrt. Achill erschlägt Hektor, Paris tötet Achill. Dazu wird die Verkleidung des Bühnengerüsts zerschlagen. Der Krieg ist gewonnen, die Beute sind Trümmer und Trümmerfrauen. Die „Troerinnen“werden unter den Griechen verlost. Auf die Epik folgt Euripides’ Drama. Wieder heißt es: Warum? Warum bringen die Griechen ein Kind um?
Die Zeit vergeht wie im Flug. Langeweile, Erschöpfung – nein! Weiter mit dieser Menschheits- und Mordgeschichte. Die siegreichen Griechen kommen heim. Ihren Fluch werden die Atriden nicht los. Richtig geraten, Bühne frei für die Orestie. Die antike Blutrache-Story bringt Rüping als Telenovela. Es gelingt den Darstellern dabei, sich zusehends von der Komik zu lösen. Als Orest seine Mutter erschlägt, berührt das.
Mehr als acht Stunden dauert der Abend; keine Verschleißerscheinungen im Publikum. Unterhaltsam und trotzdem auch verblüffend klug ist das Ganze bislang, ein Fenster in die Vergangenheit und gleichzeitig ein Spiegel der Gegenwart. Aber dann wird Fußball gespielt, einfach nur Fußball, so lange, bis sich Undas verständnis breitmacht. Warum das an einem bislang so gelungenen Abend?
Die Erklärung folgt. Prometheus heißt jetzt Zidane (Nils Kahnwald). Er, der Künstler auf dem Platz, tritt 2006 im WM-Finale in Berlin zum letzten Spiel seiner Karriere an. Aber er findet kein Ende in Schönheit. Sein Faden reißt, er will nur noch vom Platz und begeht vor den Augen der Welt den Kopfstoß. Zum Schluss geht die Sonne auf, die Darsteller schauen nach zehn packenden Stunden Schauspielwahnsinn in den Knochen nur noch zu. Ein neuer Tag – bringt der einen neuen Menschen oder nur alte Probleme in neuem Gewand? Langer Jubel.
Nach zehn Stunden kommt der Zuschauer von „Dionysos Stadt“aus der Theaterwelt zurück auf die Erde. Der Epilog wird im ICE zurück nach Augsburg gegeben. Das Bordrestaurant hat zu. Die Fahrgäste beknien die Schaffnerin, es zu öffnen. Augenblick, verweile doch!
OWeitere Termine am 24., 25. November, 29., 30. Dezember, 5., 6. Jan.