Was bei der Bahn verkehrt läuft
Mobilität Die Deutsche Bahn hat mehr als nur ein paar Baustellen. Unpünktliche Züge, mangelnde Kommunikation, finanzielle Sorgen. Und: Kunden, die zwar treu, aber oft unzufrieden sind. Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma?
Als der Vorstandschef auf den Tisch haute
Wenn doch die Durchsagen im Zug klappen würden
Hergatz Frau Müller hetzt mit Riesenschritten am Bahnhof vorbei. Der Schaffner sieht sie und ruft rüber, ob sie heute nicht mitfahren wolle. „Nein, nein“, ruft Frau Müller zurück, „heute hab’ ich es eilig.“
Haha, Spitzenwitz, nächster Spruch. Gibt doch genügend, bei denen die Bahn, nun ja, selten gut wegkommt. So ist das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Zwei Drittel der Deutschen nutzen sie praktisch nie, sagt der Berliner Experte Christian Böttger. Trotzdem sei das öffentliche Interesse gerade an der Deutschen Bahn riesig, „und jeder hat eine Meinung dazu“. Die Probleme sind ja da, auch objektiv betrachtet. In Sachen Pünktlichkeit, Streckenzustand, Sauberkeit, Information – und das bei steigenden Preisen. Ganz zu schweigen vom Investitionsstau, den Schulden im Konzern, den internen Strukturen.
Was sich zusammen genommen derart zugespitzt hat, dass Vorstandschef Richard Lutz kürzlich einen Brandbrief an seine Führungskräfte schrieb unter dem Motto: So geht es nicht weiter. Denn am Ende ist der Kunde sauer, weil er über marode Gleise holpern muss oder die Züge immer unpünktlicher werden. Gleichzeitig muss die Bahn den Spagat schaffen, bei laufendem Betrieb zu modernisieren, was zwangsläufig zu neuen Behinderungen führt und den Fahrgästen auch nicht gefällt. Wie geht es also der Bahn, und wie geht es uns mit der Bahn?
Von schlechter Stimmung ist am Bahnhof in Hergatz erst mal nichts zu spüren. An die 50 Menschen, die meisten Schüler, stehen an diesem Morgen um sieben in der kleinen Westallgäuer Gemeinde am Gleis und warten. Ihre Laune verschlechtert sich sichtbar, als eine Ansage die Stille durchbricht: „Information zu RB nach Kempten, Abfahrt um 6.58 Uhr. Heute circa zehn Minuten später. Grund dafür ist die Verspätung einer vorherigen Fahrt.“Verdrehte Augen, Seufzen. „Immerhin nur zu spät. Manchmal fällt der Zug auch einfach aus“, sagt ein Mädchen.
Wäre es sommerlich warm, sähen das manche vielleicht entspannter. Aber es gibt in Hergatz keinen Warteraum, in dem man sich aufwärmen kann. Nur zwei nackte Bahnsteige, drei Gleise und kaltes Neonlicht. Unvermittelt durchbrechen grelle Scheinwerfer die Dunkelheit. Die Regionalbahn fährt jetzt doch ein. Früher als angekündigt.
Etwa 80 Züge halten am Tag in dem Ort mit seinen 2400 Einwohnern. Hier laufen die Strecken aus Aulendorf/Ulm, Augsburg und Kempten Richtung Lindau zusammen. Weil die Verbindung München–Lindau gerade elektrifiziert wird, ist auch Hergatz betroffen. Im August war der Abschnitt zum Bodensee schon über mehrere Wochen halbtags gesperrt. Der größte Brocken folgt 2019. Vom 12. April bis 6. Oktober soll gar kein Zug zwischen Hergatz und Leutkirch fahren.
Das macht auch den Reisenden Sorgen. „Wie soll ich dann nach Memmingen kommen?“, fragt Daniela Suciu. Dort will sie auch an diesem Morgen hin. Alle zwei Monate fliegt die 49-Jährige vom Allgäu-Airport in ihre Heimat Rumänien. Weil sie in Hohenweiler arbeitet, direkt an der deutsch-österreichischen Grenze, startet sie vom nächstgelegenen Bahnhof Hergatz aus. „Das wird schwierig für mich.“Auch wenn sie sagt, sie habe Verständnis für die Modernisierung.
Ingrid Diener, 76, fährt regelmäßig nach Berlin. Weil sie kein Auto hat, ist sie auf den Zug angewiesen. Busfahren komme nicht infrage, denn „der Straßenverkehr nach Berlin ist furchtbar“. Sie lächelt mild; dass heute was schieflaufen könnte, hat sie erwartet: „Ich habe schon eine Stunde mehr für meine Reise eingeplant.“Dass es manchmal hapere, sieht sie locker. „Man muss ja als Kunde Verständnis haben“, sagt sie augenzwinkernd.
Allein wer im Sommer per Bahn von München nach Memmingen reisen wollte, musste monatelang auf Busse umsteigen. Und wer Lindau, Bregenz oder Zürich ansteuerte, musste im Intercity den Umweg über Kempten nehmen. Beides kostete viel Zeit. Von Buchloe über Mindelheim und Memmingen bis nach Leutkirch fuhr gar kein Zug mehr. Alles eine einzige Baustelle, Bayerns längste in diesem Jahr. Reisende kommen hier künftig schneller voran, und für die Anlieger wird der Verkehr leiser und umweltfreundlicher, weil durch die Elektrifizierung alte Dieselloks ausrangiert werden können. Doch neue Oberleitungen, neue Brücken, teilweise auch neue Bahnsteige in den Bahnhöfen lassen sich auf einer eingleisigen Strecke eben nicht bauen, wenn dort gleichzeitig Züge rollen. Nun fährt die Bahn wieder, bevor 2019 der nächste Abschnitt eben zwischen Leutkirch und Hergatz elektrifiziert wird – mit ähnlichen Beschwernissen für Reisende.
Die Bahn kleckert nicht mehr, sie klotzt, um ihr in die Jahre kommendes Netz auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen und dort, wo es zu verschleißen droht, zu erneuern. Der Bund stellt dafür inzwischen deutlich mehr Geld zur Verfügung. Stichwort ICE-Trassen: Wenn im Sommer 2019 die Sanierung der 327 Kilometer langen, bald schon wieder 30 Jahre alten „Neubaustrecke“Würzburg–Hannover beginnt, werden den Reisenden die damit verbundenen Verspätungen schon im Fahrplan serviert. Die Fahrt von Göttingen nach Hannover – heute eine kurze Angelegenheit von 37 Minuten – dauert dann knapp eine Stunde, weil alle Züge auf die kurvenreiche Strecke durch das Leinetal umgeleitet werden.
Das scheint weit weg. Aber wer von hier nach Hamburg, Kiel oder Bremen fährt, ist davon betroffen und muss die längere Fahrzeit einplanen. Drei weitere Sanierungsschritte folgen in den Jahren 2021, 2022 und 2023: zwischen Kassel und Göttingen, Würzburg und Fulda und schließlich zwischen Fulda und Kassel. Und immer heißt es: Abbiegen auf die früheren D-Zug-Schienen, die heute überwiegend noch von Nahverkehrs- und Güterzügen genutzt werden. Entsprechend langsam fahren dort die ICE.
So ungemütlich die Einschränkungen für Kunden sind: Ist doch gut, wenn modernisiert wird, sagen Bahn-Freunde und verweisen auf die neuen Trassen München–Berlin (seit knapp einem Jahr in Betrieb) oder Ulm–Wendlingen (geplant ab Ende 2022). „Stimmt auch“, sagt Christian Böttger. Aber es gebe noch ungleich mehr Projekte, die angepackt werden müssten, „von denen aber niemand weiß, wie sie finanziert werden sollen“. Böttger ist Professor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, ein gefragter Branchenkenner. Er sagt: Die Bahn steckt in einer wirtschaftlichen Krise, und der Bund als alleiniger Eigentümer ist ratlos.
Was der Fahrgast von der Deutschen Bahn wahrnimmt, ist ja nur ein Bruchteil des Unternehmens. „Nehmen Sie den Fernverkehr“, sagt Böttger. „Er steht finanziell gut da, macht aber nur zehn Prozent des Konzernumsatzes aus.“Die Bahn sollte mal zu einem internationalen börsennotierten Konzern ausgebaut werden. Es gibt ein riesiges Geflecht an Sparten, Tochterfirmen wie den Logistiker Schenker und den Busund Bahndienstleister Arriva, die Böttger zufolge zwar 40 Prozent des Umsatzes beisteuern, aber nur 20 Prozent des Ertrags. Und das sei noch nicht alles an Problemen.
Böttger beginnt aufzuzählen. Die zunehmende Zentralisierung und das Einschalten teurer Unternehmensberatungen führe zu Frust unter den Mitarbeitern. Der Aufsichtsrat sei stark politisiert und werde seiner Beratungsfunktion für den Vorstand kaum gerecht. Zudem sei die Fluktuation bei den Vorständen hoch. In der Güterverkehrssparte brenne es „lichterloh“.
Und dann die Finanzen. „Der Gewinn von bereinigt rund zwei Milliarden Euro reicht nicht aus, um die Geschäfte zu finanzieren.“Fast die Hälfte davon fließt in Zinszahlungen, um Kredite bedienen zu können; der Schuldenberg komme der vom Bundestag festgelegten Obergrenze von 20,4 Milliarden Euro bedrohlich nahe. „Und große Ausgabenposten“, sagt Böttger, „kommen erst noch“, die neuen ICE- und Intercity-Flotten etwa.
„Man darf ja nicht vergessen“, so Böttger: „Der Bund will den Schienenverkehr bis 2030 verdoppeln. Wie soll das gehen bei dieser Ausgangslage?“Der Bundesverkehrswegeplan, in dem die Bauprojekte aufgelistet sind, sei unterfinanziert. Für die Projekte des vordringlichen Bedarfs, zu denen der Zulauf zum Brennerbasistunnel gehört, sind knapp 40 Milliarden Euro vorgesehen. Davon stehe nur die Hälfte bis 2030 zur Verfügung. Für die weiteren Projekte, die unter anderem zur Kapazitätsverdoppelung benötigt werden, gebe es gar keine Mittel.
Alle diese Probleme stehen im Hintergrund, diskutiert man über Dinge wie Qualität oder Pünktlichkeit. Wenigstens verspricht die Bahn, die Auswirkungen auf Reisende so gering wie möglich zu halten, wenn sie baut. So soll auf längeren Strecken wie Dortmund–München nicht gleichzeitig an drei Stellen modernisiert werden. Und sind es nicht große Maßnahmen wie zurzeit im Allgäu, dann werden die Sperrungen auf drei Etappen (etwa Pfingst-, Sommer- und Herbstferien) verteilt. Alles langfristige Planen hilft aber wenig, wenn durch Unfälle und Pannen plötzlich zentrale Achsen ausfallen wie jüngst, als ein brennender ICE-Waggon erhebliche Schäden auf der Schnellfahrstrecke Frankfurt–Köln verursachte mit Verspätungen von Zügen, die sich tagelang bis nach Augsburg und München auswirkten.
Wobei: Es ist ja nicht so, dass die Bahn-Konkurrenz keine Probleme hätte. Beispiel: Zwischen Immenstadt und Oberstdorf fallen bis 5. November Alex-Züge aus, weil es dem Betreiber, der Länderbahn, an Personal fehlt. Deshalb hat die Bayerische Eisenbahngesellschaft sie am Donnerstag abgemahnt.
„Bei aller Kritik: Die Deutsche Bahn ist besser als ihr Ruf, besser als so manche Fluggesellschaft“, relativiert Experte Böttger. Sie habe viele loyale Kunden und sei nun mal ein komplexes System. „Zu sagen, der Zug ist voll, hängt man halt noch einen Wagen dran, geht nicht so einfach.“Trotzdem könne man vieles besser machen, ungeachtet der finanziell problematischen Lage.
Der Ärger der Fahrgäste etwa über manche Verspätung lässt sich in Grenzen halten, wenn sie rechtzeitig informiert werden. Das funktioniert oft nicht. Kunden wissen dank Smartphone häufig besser Bescheid, wo es gerade hakt. Die Bahn betreibt selbst ein Bauinfoportal im Internet. Dort werden schon vorsorglich einzelne anstehende Fahrplanänderungen bis zum Jahresende angekündigt, wenn auch in der bahneigenen Sprache und deshalb nicht immer kundenorientiert.
Dass es auch anders geht, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Region. Seit vergangener Nacht halten am Hauptbahnhof Ulm bis 8. November keine Fernverkehrszüge. Grund sind Bauarbeiten im Zusammenhang mit der neuen ICE-Strecke nach Stuttgart. Dazu heißt es im Bauinfoportal: „Die ICE-Züge werden zwischen Stuttgart Hbf und Augsburg Hbf über Aalen Hbf umgeleitet und halten nicht in Plochingen, Ulm Hbf und Günzburg. Aufgrund der Umleitung verspäten sich die Züge bis München Hbf um bis zu 60 Min.“Informationen in der Sprache der Kunden. Wenn dann noch die Durchsagen im Zug über die Gründe der Verspätung klappen würden, wäre schon viel gewonnen.
Auch der Bahnhof Hergatz soll im Zuge der Elektrifizierung moderner werden, sagt ein Bahnsprecher. Statt einer kleinen digitalen Anzeige an jedem Bahnsteig und Lautsprecherdurchsagen soll eine Anzeigetafel mit An- und Abfahrtszeiten installiert werden. Das würde auch Cornelia und Ulrich Hagen das Leben erleichtern. Das Ehepaar möchte in Urlaub fliegen, das Flugzeug soll um 15 Uhr in München abheben. „Wir haben genug Zeit eingeplant“, sagt Ulrich Hagen. Man wisse ja nie … Die Züge Richtung München seien oft voll, und Verspätungen gebe es auch regelmäßig. „Das ist schon nervig“, klagt seine Frau.
Noch schlimmer empfindet sie aber die Kommunikation. „Einmal hieß es, der Zug fällt aus, aber dann kam er nach 20 Minuten doch“, erzählt die 55-Jährige. Und noch etwas: Das Ehepaar wohnt direkt an der Bahnstrecke und sagt, es wisse bis heute nicht, wann 2019 die Bauarbeiten vor seinem Haus beginnen werden. „Wir bekommen einfach keine Information“, sagt Ulrich Hagen. Für die jetzige Reise hat er sich vorsorglich im Radio informiert. „Da haben sie schon eine Stellwerkstörung und einen Einsatz am Gleis durchgesagt“, sagt er. Und fügt hinzu: „Wir haben ja genug zeitlichen Puffer.“