Die Hunderttürmige
Geschichte Ingolstadt war einst für seine überaus sehenswerte Stadtmauer bekannt. Vieles davon steht noch, auch wenn die wehrhaften Gemäuer den meisten Schanzern nicht so präsent sind. Damit sich das ändert, wird nun einiges unternommen
Ingolstadt Wen man heute irgendwo auf diesem Planeten nach Ingolstadt fragt, dann denken viele zuerst an Audi. In Deutschland sind der vormals erstklassige FCI oder die Panther den Fußball- und Eishockeyfans vertraut. Ingolstadt ist national auch als Stadt des Bieres positioniert. Hier, das weiß man, wurde 1516 das Reinheitsgebot verkündet. Man kennt ferner das hoch hinaus ragende Münster, natürlich auch das Neue Schloss. Man weiß, gerade 2018, dass Ingolstadt auch Frankenstein-Stadt ist. Die Kreatur, sie entstand hier. Und wem Mary Shelleys Schauerroman etwas sagt, dem ist auch geläufig, dass Ingolstadt als erste bayerische Universitätsstadt früher in ganz Europa berühmt war. Dass die Schanz zudem eine Militärstadt war (und ist), wissen auch die meisten. Was sich dagegen nicht so sehr in das kollektive Gedächtnis eingeprägt hat, ist die prachtvolle, schön bemalte Stadtmauer. Vor Jahrhunderten sagte man „das hunderttürmige Ingolstadt – ad centum turres“. So hatten die Professoren gegen 1500 ihre Universitätsstadt geheißen. Es waren zwar nur 89 Türme. Aber die üppige Aufrundung war der Reputation des Gemäuers nicht abträglich. Sie war quasi die Marke im touristischen Portfolio. Auch wenn der Tourismus im Mittelalter eher minimalinvasiv daherkam.
So wie Ingolstadt heute schon bald über die Landesgrenzen hinaus als smart city und Pilotstadt für digitale und autonome Mobilität einen Namen haben will, so hatte es den früher eben für seine berühmte Bewehrung. Diese entstand im 14. und 15. Jahrhundert als die erste und älteste Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert erweitert wurde. Das alles ist allerdings schon wieder ein Weilchen her. Und heute erscheint die alte Pracht – abgesehen vom Kreuztor und ein paar anderen Stellen – eher dezent durch. Ab 1804 wurden die Türme an Privatbesitzer verkauft. Und heute ist die Mauer an so mancher Stelle verbaut und die besonderen Zinnen abgerissen. Vor allem aber ist die alte Bewehrung nicht mehr so im kollektiven Bewusstsein, wie sich das beispielsweise Oberbürgermeister Christian Lösel wünschen würde.
Damit sich das ändert, hat der Stadtrat Ende Oktober ein neues Programm aufgelegt, das helfen soll, die Mauer zu erhalten, sie aufzuwerten und – wo es passt – vielleicht vereinzelt auch wiederaufzubauen. Zwar wurden auch in den letzten Jahrzehnten schon immer wieder Abschnitte saniert und Türme aufgehübscht. Aber die Stadt ist der Ansicht: Da geht noch mehr. Die Mauer soll den Schanzern wieder mehr Identität geben.
Die Idee zum 100-Türme-Projekt kommt vom OB selbst. Der hatte sie dem Historischen Verein Ingolstadt zum 150. Geburtstag geschenkt. Inzwischen ist viel passiert. So haben Florian Nagler vom „Lehrstuhl „Entwerfen und Konstruieren“an der TU München und seine Studenten Entwürfe ausgearbeitet, wie man die Stadtmauer besser in Szene setzen kann. Während diese Arbeiten vor allem das räumliche Denken anregen und Möglichkeiten aufzeigen sollten, ist die Förderung der Stadt dagegen schon konkreter. Im Stadtplanungsamt haben sich seit dem Stadtratsbeschluss erste Eigentümer gemeldet und bei drei Türmen laufen bereits Voruntersuchung, die das historische Erscheinungsbild erforschen sollen. Wann erste Bauarbeiten beginnen könnten, steht zwar noch längst nicht fest, aber das Programm läuft gerade auch erst an. Vielleicht geht die Stadt auch selbst mit gutem Beispiel voran: In der Münzbergstraße etwa ist ein Turm, bei dem die Verwaltung gerade prüft, wie man verfahren könnte.
Dem Stadtarchäologen Gerd Riedel ist wichtig, dass die Besitzer der Türme wieder etwas mehr darüber nachdenken, dass sie „in einem großen Baudenkmal der Stadt“leben. Eine Stadtmauer wie die Ingolstädter damals zu bauen, wäre von der Dimension in etwa so – wenn dieser etwas schräge Vergleich zulässig ist – als würde man heute in Ingolstadt ein zweites Audi-Werk hochziehen. Riedel ist wichtig, dass in einer stark zukunftsorientierten Stadt das Geschichtsbewusstsein gestärkt wird. Man solle schon wissen, warum man hier „Schanzer“heiße. Die Stadt habe im Laufe der Jahrhunderte vieles mitgemacht und durchgestanden. Und eine Stadtmauer habe „nach wie vor den Wert, Bürgerstolz zu vermitteln“.