Man nannte ihn angeblich „Rettungs-Rambo“
Gericht An Tag sechs und sieben des Prozesses gegen Patientenmörder Niels Högel sagen erstmals Zeugen aus. Sie werfen die Frage auf, was Kollegen des ehemaligen Krankenpflegers wussten
Oldenburg Als die Bagger im Frühjahr 2009 das Grab ihrer Mutter freischaufeln, steht Kathrin Lohmann allein am Warflether Deich in Niedersachsen und schaut fröstelnd zu. Die Reste des Sarges und des Leichnams treiben im Grundwasser. Niemand spricht mit Lohmann, niemand kümmert sich um die trauernde Tochter. Jahre später liest Arne Schmidt, Leiter der 2014 eingerichteten Sonderkommission „Kardio“, in der Zeitung von Lohmanns Erlebnis auf dem Friedhof.
Vor Gericht sagt er: „Das darf so nicht wieder passieren!“Lohmanns Mutter war das erste Högel-Opfer, das aus dem Grab geholt werden musste; die Soko „Kardio“wird 134 weitere tote Patienten exhumieren. Schmidt verfügt: Angehörige von mutmaßlichen Högel-Opfern dürfen an den Exhumierungen nicht teilnehmen, sie werden währenddessen von Polizisten zu Hause betreut. Freitag und Donnerstag sind die Tage sieben und sechs im Mordprozess gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel, vor Gericht sagen erstmals Zeugen aus; weitere grausame Details werden öffentlich. Den Anfang macht am Donnerstag Kriminaldirektor Schmidt.
Laut Anklageschrift soll Högel in den Jahren 2000 bis 2005 in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst 100 Patienten mit Medikamenten vergiftet haben, die zum Herzstillstand oder Kammerflimmern führten. Anschließend versuchte er, sie wiederzubeleben, um als rettender Held dazustehen. Rund drei Stunden lang gibt Schmidt einen Abriss der Soko-Ermittlungen – Ermittlungen, wie es sie in Deutschland vorher nie gegeben hat. Er spricht von einer „großen Herausforderung“. Die Organisation der Exhumierungen war nur eine davon.
Kathrin Lohmann wollte nach dem Tod ihrer Mutter 2003 im Klinikum Delmenhorst nicht lockerlassen. Sie erreichte es, dass der Leichnam ihrer Mutter untersucht wurde, sie trat so den Mordprozess gegen Högel 2014/15 los. Damals ging es um fünf Tatvorwürfe vor Gericht, aber schnell wurde deutlich, dass es viel mehr Fälle geben könnte, womöglich hunderte. Noch während des laufenden Prozesses nimmt die Soko ihre Arbeit auf.
Es gibt vermutlich keinen besseren Kenner des Falls als Soko-Chef Schmidt. Der 48-Jährige ist gut vorbereitet. Er zeigt Diagramme: Sterbefälle im Klinikum Delmenhorst, Dienstzeiten der Pflegekräfte. Er schildert auch, wie die Anforderungen an die Ermittler stetig stiegen.
Schmidt spricht sachlich, aber in ihm brodelt es. Kliniken und Pflegekräfte hätten früh Verdacht geschöpft oder schöpfen müssen. Eine Ermittlerin wird das später untermauern – sie berichtet von Gerüchten und Spitznamen wie „RettungsRambo“, die im Krankenhaus Delmenhorst kursiert seien. Um eine mögliche Mitverantwortung von Klinik-Mitarbeitern wird es in gesonderten Prozessen gehen. Gegen vier ehemalige Kollegen von Högel aus dem Klinikum Delmenhorst ist bereits Anklage erhoben worden, gegen fünf Ex-Kollegen aus dem Klinikum Oldenburg dauern die Ermittlungen an.
Am siebten Prozesstag, dem Freitag, sagen weitere Polizeibeamte aus. „Reduziert“nennt einer das Aussageverhalten ehemaliger Kollegen Högels aus dem Klinikum Oldenburg: „Wir haben immer das Gefühl gehabt, dass die Zeugen uns nicht ihr Wissen mitteilen.“Zur Vernehmung hätten sie fast alle einen Anwalt mitgebracht. Angewiesen haben soll das die Klinik, die auch den Anwalt bezahle. Stimmt das? Das Gericht wird die Klinikumsmitarbeiter danach fragen; zu den nächsten Verhandlungstagen sind mehr als zehn Ex-Kollegen Högels als Zeugen geladen. Der Prozess wird am 22. Januar fortgesetzt.