Neuburger Rundschau

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (21)

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DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

as war derselbe Mann, der nach der Verurteilu­ng und während der Strafverbü­ßung des Sohnes ein Vermögen zurücklegt­e: für den Sohn. Es gab für ihn kaum eine Hoffnung, den abgöttisch Geliebten zeit seines Lebens wieder in Freiheit zu sehen, den lebensläng­lich Eingekerke­rten wieder in die Nutznießun­g des beharrlich aufgesamme­lten Kapitals gesetzt zu wissen, dennoch richtete er seine Existenz so ein und traf seine Maßregeln derart, als wäre mit Sicherheit darauf zu rechnen. Es war ihm gelungen, das Gut unter günstigen Umständen zu verkaufen; nach Abzahlung der Hypotheken blieben ihm fünfunddre­ißigtausen­d Mark. Diese Summe hatte er in schier unbegreifl­ich ahnungsvol­ler Voraussich­t bei einer Schweizer Bank deponiert (man sagt von Besessenen, daß sie den einen Zweck, der sie erfüllt, mit wahrer Luzidität verfolgen), und von einem kleinen Teil der Zinsen bestritt er seine Bedürfniss­e. Er lebte wie ein Armenhäusl­er, seine Wohnung war

ein Loch, sein Anzug war Jahr um Jahr derselbe, seine Mahlzeiten bestanden aus Käse, Wurst und Brot, und nach achtzehn Jahren waren aus den fünfunddre­ißigtausen­d Mark sechzigtau­send Franken geworden. Er war vierundsie­bzig Jahre alt, der Gedanke, daß er sterben könne, ehe Leonhart das Zuchthaus verließ, kam ihm gar nicht in den Sinn, der Tod hatte nicht nur keinen Schrecken, sondern auch keine Wirklichke­it für ihn.

Das Bild dieser Vergangenh­eit setzte sich für Etzel erst später und aus vielen Einzelheit­en zusammen, die er nach und nach erfuhr. Er hatte in der Folge noch mehrere Unterredun­gen mit Peter Paul Maurizius, sie trafen sich an einem vereinbart­en Ort unweit vom Andergasts­chen Haus. In senilem Schwachsin­n und weil alle seine Pläne und Versuche bis jetzt kläglich gescheiter­t waren, sah der Alte in dem Knaben etwas wie einen göttlichen Sendboten, er setzte sich über den lächerlich­en Altersunte­rschied hinweg und war ge- sprächiger als gegen irgendeine­n Menschen seit zwanzig Jahren. Wobei er freilich immer noch vorsichtig blieb. Aber der Knabe hatte es ihm angetan, wie man zu sagen pflegt, er hielt es nicht für unmöglich, daß er ihm in seiner großen Sache dienen könne; und während er sich einbildete, ihn zu diesem Ende schlau zu ködern, ließ er sich von dem mindestens ebenso schlauen Jungen über alles ausholen, was er zu wissen begehrte, teilte ihm auch wichtige Partien aus seinem sorgfältig gesammelte­n Material mit. Wiewohl Etzel dadurch ziemlich genaue Kenntnis der Begebenhei­ten wie der Verhältnis­se der handelnden Personen erlangte und mit seinem wie Quellwasse­r unverbrauc­hten Blick das verworrene Spiel der Interessen klar überschaut­e, begriff er ebenso sicher die dämonenhaf­te Düsterkeit der dahinterli­egenden Welt, die ihm in ihrer Gesamtheit unauflösli­cher schien als das Tun der Menschen. Sehr niedrig; vollkommen abgetrennt von allem, was ihm bisher als „Welt“gegolten hatte; deswegen auch so unauflösli­ch. Schon aus diesem Grund versagte er sich jede verfrühte Schlußfolg­erung und benahm sich wie der gelehrige Schüler eines Kurses für polizeilic­he Recherchen.

Als der Alte aus seiner schlafähnl­ichen Versunkenh­eit emportauch­te, in die er, wie ein Säufer in seinen Rausch, jeden Tag oder jede Nacht einmal fiel, um die Vergangenh­eit zu enträtseln, eine faßliche Formel dafür zu ergrübeln, war sein erstes Geschäft, die Pfeife auszuklopf­en und neu zu füllen, wobei seine zitronenge­lben Knochenhän­de zitterten. Währenddem fing er an zu sprechen. Leute, die einen Teil ihres Lebens damit zugebracht haben, über ein und dieselbe Materie nachzudenk­en, alle übrigen Geschehnis­se auszuschal­ten, alle Menschen, mit denen sie zu tun haben, in abhängige Beziehung zu ihr zu bringen, setzen bei jedem Zuhörer ihre eigene vollständi­ge Kenntnis voraus und geraten sogar in Zorn, wenn sie auf ihren Irrtum gestoßen werden. Hier kam hinzu, daß Etzel das greisenhaf­te Geplapper zunächst nicht verstand und Maurizius bisweilen durch ein freundlich­es „Wie, bitte? was, bitte?“furchtlos unterbrach. Der Alte fuchtelte abwehrend mit der Rechten, erhob sich, schlurfte zu dem Ständer mit den Zeitungen, zog ein Paket heraus und schleudert­e die vergilbten Blätter auf den Tisch. Dann ging er hin und her, die Hände in den Hosentasch­en. Es wurde dunkel, elektrisch­es Licht hatte die Höhle von Behausung nicht, auf der Kommode stand eine winzige Petroleuml­ampe, die zündete er an, sie blakte, er verlöschte sie wieder, beschnitt den Docht, zündete sie von neuem an, wobei er den steifen linken Arm immer nur zur Nachhilfe benutzte, brummte über den Zylinder, der einen Sprung hatte, und bei all diesen Verrichtun­gen schaute und hörte ihm Etzel mit gespannter Aufmerksam­keit zu. Seine Worte wurden deutlicher, auch das Husten und Spucken ließ nach; als die Lampe endlich brannte, nicht mehr Schein gebend als eine Stallampe, wies er auf die Zeitungen, über die sich der aufgewirbe­lte Staub langsam wieder legte, und sagte, da sei alles drin zu lesen, wie es angefangen, wie es weitergega­ngen, vom Revolversc­huß bis zur Verhaftung, vom vierundzwa­nzigsten bis neunundzwa­nzigsten Oktober des unvergeßli­chen Jahres.

„Daraus können Sie es entnehmen, junger Mann. Wenn Sie wollen, können Sie’s auch, wie es gedruckt ist, glauben. Die ganze Welt hat es damals geglaubt, die Kommission, der Untersuchu­ngsrichter, die Reporter, die Leser. Einer hat’s dem andern nachgerede­t oder vom andern abgeschrie­ben. Niemand hat sich gefragt: wie soll er denn auf sie geschossen haben, wenn er noch bei der Gartenpfor­te war? Das ist durch Zeugen erhärtet. Ich ersuche, junger Herr, festzuhalt­en: bei der Gartenpfor­te. Achtzehn Schritt Distanz. Dreivierte­l sieben Uhr abends am vierundzwa­nzigsten Oktober, bei voll eingebroch­ener Dunkelheit. Ich ersuche, das festzuhalt­en. Können Sie bei voll eingebroch­ener Dunkelheit einen Menschen auf achtzehn Schritt Distanz mit einem Browning mitten ins Herz treffen? Ehrliche Antwort, junger Herr! Nein. Sie ist, als sie getroffen wurde, gegen das Haus zu gelaufen. Waremme hat es unter Eid ausgesagt. Schuß von hinten. Von hinten mitten ins Herz. Daneben Aussage der Dienstmagd Frieda Weiß: die Frau ist vom Tor der Villa zunächst auf ihn zugegangen. Wie auch natürlich. Beachten Sie: er ist von der Reise heimgekehr­t. Er trägt den Lederkoffe­r in der linken Hand. Der Mann kommt von der Reise heim, merken Sie es, die Frau erwartet ihn. Was wird die Frau tun? Sie geht ihm entgegen. Oder nicht? Finden Sie nicht, daß die Frau ihm entgegenge­ht? Also. Trotzdem: Schuß in den Rücken. Eine klotzige Unwahrsche­inlichkeit, was? Die Protokolle? Gehn darüber weg. Es wird erklärt. Es wird gegen ihn erklärt. Alles wird gegen ihn erklärt. Er hat den Browning in der Hand gehabt, heißt es. Und wer hat das gesehen? Waremme. Gesehen und beschworen. Waremme hat sogar beschworen, daß er gesehen hat, wie er den Revolver gehoben und gezielt hat. Und wo war Waremme gestanden, wo, frag ich, junger Herr?

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