Gesucht: der Anti-Trump
USA Wer fordert Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl im Herbst 2020 heraus? Das Schaulaufen hat schon begonnen. Experten prophezeien: Diese demokratischen Vorwahlen werden die wildesten aller Zeiten
Washington Sie standen draußen im Regen und ertrugen drinnen anderthalb Stunden Vorprogramm in der kalten Halle, in der 1963 die letzten Studebaker-Limousinen vom Band liefen. Doch als der junge Mann mit hochgekrempelten Hemdsärmeln am Sonntagnachmittag endlich ans Rednerpult tritt, ist der Jubel kaum zu bremsen. „Ich bin hier, um eine andere Geschichte zu erzählen als ‚Make America Great Again‘“, ruft Pete Buttigieg den 3000 jungen Zuhörern zu. „Es ist ein Mythos, dass wir die Uhr zurückdrehen können. Die Veränderung wird kommen. Wir müssen sie gestalten.“
Das sind höchst ungewohnte Worte im heutigen Amerika. Der Mann, der sie vor den Kameras vieler Fernsehsender ausspricht, war vor drei Monaten nicht einmal den härtesten Politik-Nerds in der USHauptstadt Washington ein Begriff. Gerade einmal 37 Jahre alt ist der Bürgermeister der Kleinstadt South Bend im Rostgürtel von Indiana. Doch innerhalb weniger Monate hat der bekennend schwule HarvardAbsolvent fast 800 000 Follower bei Twitter gesammelt. Das halbe Land kennt seinen fürsorglichen Ehemann Chasten und seine knuffigen Hunde Truman und Buddy. Der Late-Night-Kabarettist Trevor Noah hat für seine „Daily Show“die Stottereien von Reportern bei der Aussprache des Nachnamens zusammengeschnitten – samt der Empfehlung des Politikers: „Nennt mich einfach Bürgermeister Pete!“
In den ersten drei Monaten des Jahres haben 159000 Kleinspender sieben Millionen Dollar auf das Kampagnenkonto des Lokalpolitikers überwiesen. Nun holt Buttigieg tief Luft und spricht den Satz aus, auf den alle Zuhörer gewartet haben: „Ich bin ein stolzer Sohn von South Bend und bewerbe mich als Präsident der USA.“
Tatsächlich hat der Sympathieträger aus dem Mittleren Westen keine schlechten Chancen, im Herbst 2020 gegen Donald Trump anzutreten. Sein sagenhafter Aufstieg ist die jüngste Episode einer beispiellosen politischen Castingshow: der Kür des demokratischen Kandidaten für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Noch ist die Bewerbungsfrist nicht abgelaufen. Doch schon jetzt haben sich 18 Interessenten warmgelaufen: Prominente und Nobodys, Junge und Alte, Frauen und Männer, Weiße und Schwarze, Linke und Gemäßigte. Das Magazin Time spricht schon von den „wildesten demokratischen Vorwahlen“seit ewigen Zeiten.
Zwar ist es bis zum Urnengang am 3. November 2020 noch eine ganze Weile hin. Doch das komplizierte Wahlsystem der Vereinigten Staaten mit unterschiedlichen Vorwahlen in 50 Bundesstaaten, bei denen die Delegierten für den Parteitag im nächsten Sommer bestimmt werden, der dann über den Kandidaten entscheidet, hat das Schaulaufen schon jetzt in Gang gesetzt. Im kommenden Februar beginnt traditionsgemäß in Iowa der VorwahlReigen.
Es geht um viel. „Wir stehen an einer entscheidenden Wegscheide“, sagt Bernie Sanders, der Senator aus Vermont, der sich schon 2016 für das Weiße Haus bewarb: „Wir treten gegen einen Präsidenten an, der ein pathologischer Lügner, ein Betrüger, ein Rassist, ein Sexist und ein Ausländerfeind ist. Jemand, der die amerikanische Demokratie untergräbt und das Land in eine autoritäre Richtung führt.“Das erklärt den großen Andrang der Kandidaten. Ein Blick auf das bunte Bewerberfeld offenbart zugleich das Dilemma der Demokraten: Der narzisstische Wüterich im Weißen Haus hat auf der anderen Seite zwar eine starke Mobilisierung befeuert. Doch bislang ist sich die Opposition weder über den richtigen Kurs noch über ihr Personaltableau einig.
So schält sich drei Monate nach Anmeldung der ersten Bewerbungen noch kein klarer Favorit heraus. Bei zwei aktuellen Umfragen in Iowa und New Hampshire schneidet mit Ex-Vize-Präsident Joe Biden ausgerechnet der Mann am besten ab, der offiziell noch gar nicht entschieden hat, ob er antritt. Der 76-Jährige kommt auf 27 beziehungsweise 23 Prozent Unterstützung. Für den 77-jährigen Sanders sprechen sich 16 Prozent aus. Überraschend hat sich der vier Jahrzehnte jüngere Buttigieg mit neun beziehungsweise elf Prozent auf den dritten Platz geschoben. Mit leichtem Abstand folgen die erfahrene linke Senatorin Elizabeth Warren, ihre jamaikanisch-indischstämmige Kollegin Kamala Harris und Beto O’Rourke, der Shootingstar der texanischen Midterm-Wahlen.
Doch noch ist alles im Fluss, und die Umfragen liefern nur ein punktuelles Stimmungsbild. Ohnehin folgt die Präsidentschaftswahl ganz eigenen Regeln. Für die Bewerber kommt es darauf an, beim Parteitag in 15 Monaten eine Mehrheit der 3800 Delegierten hinter sich zu bringen. Zunächst aber müssen sie jeweils schlappe 100 Millionen Dollar auftreiben, um es bis zu den ersten „Primaries“in Iowa zu schaffen.
Über allem aber schwebt die Frage, von welcher Seite die Demokraten den Amtsinhaber Trump angreifen sollen. Eine Gruppe jüngerer Kongresspolitiker um die New Yorker Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez dringt auf einen radikal linken Kurs unter dem Banner des demokratischen Sozialismus. Hingegen warnen ältere Parteifreunde wie Jack Markell, Ex-Gouverneur von Delaware: „Die einzige Chance für Trump zu gewinnen ist, wenn unser Kandidat zu links ist.“
Als ein Lackmustest kristallisiert sich gerade die Gesundheitspolitik heraus. Die vom linken Senator Sanders propagierte allgemeine gesetzliche Krankenversicherung wird inzwischen von zahlreichen Demokraten unterstützt. Das steuerfinanzierte Modell ähnelt europäischen Vorbildern, käme für die bislang privatwirtschaftlich organisierte USA aber einem Systemwechsel gleich, der die Einführung einer Bürgerversicherung in Deutschland wie eine Fingerübung aussehen ließe. „Brüder und Schwestern, willkommen bei der Revolution!“, begrüßt Sanders tatsächlich die Zuhörer seiner Veranstaltungen, wo bemerkenswert viele Junge ihrem weißhaarigen Idol mit „Bernie, Bernie!“-Rufen zujubeln.
Bei Umfragen unterstützen eindrucksvolle 56 Prozent der Amerikaner grundsätzlich den Plan einer „Medicare For All“. Sobald sie aber mit den unvermeidlichen massiven Steuererhöhungen und Einschränkungen der privaten Vorsorgemöglichkeit konfrontiert werden, sackt die Zustimmung auf 26 Prozent ab. Nancy Pelosi, oberste Demokratin im Kongress, hat dem Vorhaben daher eine Absage erteilt. Sie setzt sich stattdessen für eine Weiterentwicklung der bescheideneren ObamaKrankenversicherung ein. Von den möglichen Präsidentschaftskandidaten haben sich Warren und Harris klar auf die Seite der Radikalreformer geschlagen. Joe Biden, mit dessen offizieller Bewerbung in den nächsten Wochen gerechnet wird, sieht das Vorhaben skeptisch.
Die Differenzen bei diesem Thema haben ähnlich wie beim Streit über die ökologische Energiewende „Green New Deal“oder die Abschaffung der Einwandererpolizei ICE nicht nur ideologische, sondern auch taktische Gründe. Ein Blick auf die politische Landkarte hilft beim Verständnis. Das Schlachtfeld der Präsidentschaftswahlen ist klar markiert. Es sind die Bundesstaaten, in denen Trump ganz knapp über Clinton gesiegt hatte: Michigan, Wisconsin und Pennsylvania im sogenannten Rostgürtel sowie Arizona, Florida und North Carolina im südlicheren Sonnengürtel. Während es im industriellen Norden eher um Jobs geht, spielen im Süden Fragen der Rassendiskriminierung und der Einwanderung eine große Rolle.
Die Demokraten müssen also einen Spagat hinbekommen. Jüngere weiße Wähler sind deutlich linker eingestellt als Ältere und Schwarze. Ein radikales Programm, das die Basis in den demokratischen Hochburgen begeistert, hilft gar nichts, wenn es die potenziellen Wechselwähler anderswo verschreckt. Überall scheint es die Sehnsucht nach einem
Den Demokraten fehlt bislang eine klare Strategie
Man sollte sich schon mal Bood-eh-jedge merken
frischen Gesicht zu geben. Das könnte den beiden derzeitigen Favoriten Biden und Sanders noch zu schaffen machen. Zwar stehen der konservativ-pragmatische Ex-Vizepräsident und der linke Senator für zwei gegensätzliche Strömungen, verkörpern jedoch beide den Typus des älteren weißen Mannes, der weiblichen Wählerinnen zunehmend kritikwürdig erscheint. Kamala Harris, Beto O’Rourke und Pete Buttigieg sind jünger, bunter und weniger ideologisch festgelegt.
Allerdings hapert es bei den Newcomern bisweilen noch mit den konkreten politischen Inhalten. Auf die Frage nach seiner Vision für Amerika antwortete der einstige Punk-Rocker O’Rourke kürzlich: „Niemanden zurücklassen, unabhängig davon, was man glaubt oder wen man gewählt hat.“Und Bürgermeister Buttigieg sagte: „Es würde uns besser gehen, wenn Washington wie eine Kleinstadt regiert würde.“Das klang etwas nebulös.
Dafür haben hartnäckige Rechercheure inzwischen die Aussprache seines Namens geklärt. Mit amerikanischem Idiom geht sie etwa so: Bood-eh-jedge. Es kann nichts schaden, sich das zu merken.