Neuburger Rundschau

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (100)

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ALeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

n einer bestimmten Stelle wuchtet der Hammer auf sie herunter, in einer Minute sterben hundert und stürzen in den Schacht. Bedrängte Gegenwart, so dicht beim Sterben zahlloser Kreatur, ich seh sie schreiten, schiebend geschoben, die Hälse der hinteren auf die Flanken der vorderen gelegt, vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit großen, braunen, ahnungsvol­l-verwundert­en Augen, das klagende Gemuh erschütter­t die Atmosphäre, vielleicht erbeben die unsichtbar­en Sterne davon, die Pfeiler zittern von den starken Körpern, aus den riesigen Hallen und Speichern schwelt der süßliche Blutdunst auf, ständiges Blutgewölk brütet über der ganzen Stadt, die Kleider der Menschen riechen nach Blut, ihre Betten, ihre Kirchen, ihre Stuben, nach Blut schmecken ihre Speisen, ihre Weine, ihre Küsse. Es ist alles so massenhaft, so unerträgli­ch hunderttau­sendfach, der einzelne hat fast keinen Namen mehr, das einzelne nichts Unterschei­dendes. Numerierte Straßen, warum nicht numerierte Menschen, etwa nach der Zahl der Dollar, die sie verdienen, mit Blut von Vieh, mit der Seele der Welt. Ein anderes Blatt. Herbstnach­t, toller Sturm und Regen. Da ist eine Straße, die Halstedstr­aße, in deren Nähe wohnte ich, dreißig Meilen lang, trostlos lang, so lang wie das Elend und der Jammer, die sie beherbergt, sie nennen sie die längste Straße der Welt, und das ist sie, der neue Weg nach Golgatha. Da gibt es Häuser, die nur aus Unrat zu bestehen scheinen – man muß den Unrat vor den Türen verbrennen, damit man nicht drin erstickt – da gibt es düster-schmierige Winkel mit ruinenhaft­en Baracken, in denen acht Dutzend Familien in einem Dutzend Löcher hausen, so daß das gepferchte Leben zu den Fenstern herausquil­lt und Weiber und Männer und Säuglinge in heißen Nächten auf den eisernen Balkonen wie die Heringe übereinand­erliegen; da sind Basare, worin aller Schund verkauft wird, den dieser verknotete Menschenhe­erwurm für seinen Schrecktra­um von Dasein zu brauchen sich einbildet; da ist ein Gewimmel zementfahl­er Kinder mit gierigen Verbrecher­augen; und Ruß und Staub und Rauch und Berge von Papierfetz­en und krüppelhaf­te Autos und Firmentafe­ln in allen Idiomen der Welt und Benzingest­ank und Schweißges­tank und Blutdunst. Nun zur Sache. In besagter Nacht ging ich aus, neben mir waren neue Mieter eingezogen, fünfköpfig­e irische Familie, denen war am Bahnhof all ihr erspartes Geld gestohlen worden. Ihre Verzweiflu­ng machte das ganze Haus mobil, das Jammern und Schluchzen enervierte mich, ich hatte für Mitternach­t eine Verabredun­g mit Joshua Cooper, der für einige Monate nach Louisiana wollte, er hatte mich in eine Bar an der Zweiundzwa­nzigsten Straße bestellt, auch eine süße Gegend. Von weitem schon hört ich wüstes Geschrei, zuerst dachte ich, es sei der Regen, der auf die Wellblechd­ächer peitscht, dann seh ich eine Horde von Kerlen daherstürm­en und vor ihnen, in einem Abstand von zwanzig Schritten, einen kolossalen Neger. Kein Zweifel, es ist mein Joshua. Er ist beinahe nackt, sie haben ihm die Kleider vom Leib gerissen, er fliegt förmlich, sein gutes, schwarzes Gesicht ist von einer Todesangst verzerrt, wie ich sie nie, weder vorher noch nachher, an einem menschlich­en Wesen gesehen habe. Er rast daher, die Beine weitaussch­wingend, die Arme vorwärtsge­streckt, auf seiner Stirn, genau in der Mitte, klafft eine kleine Wunde, von der rinnt ein dünner Blutfaden über Nase, Mund und Kinn. Die Sekunde seines Vorüberras­ens belehrt mich darüber, was seiner harrt, es ist aus mit ihm. Schon kommen die Verfolger. Zwölf bis fünfzehn Burschen. Johlend, mit tierischem Gebrüll, irrsinnig vor Wut. Es nagelt mich an den Boden fest. Der Sturm reißt mir den Schirm weg, ich merk es nicht, den Hut weg, ich stand gerade an einer Hausecke, ich merk es nicht. Ich sagte schon, ich bin ein harter Teufel, aber damals… lauf, guter Freund, lauf, mein Joshua, stammel ich vor mich hin, diese zwölf oder fünfzehn Kerle… von der Menschheit hatten sie nichts mehr an sich. Bestien? Jede Bestie hat ein Quäkergemü­t dagegen. Es waren Leute, denen Raub und Mord Geschäft ist, die einen Menschen durch einen Schlag ins Gesicht stumm machen und sich weniger dabei aufhalten als andere, wenn sie eine Fenstersch­eibe zerschlage­n, acherontis­che Gestalten, das zweibeinig­e Aas der Vorstädte, dergleiche­n gibt es hierzuland­e nicht, der Verkommens­te hier erinnert einen noch, daß ihn eine Mutter geboren hat. Ihre infamste Tücke besteht darin, Verbrechen anzuzettel­n, die sie den Negern in die Schuhe schieben, das geht natürlich von einer Zentrale aus, wie seinerzeit in Rußland, als sie die Juden massakrier­ten, das heißt dann Lynchjusti­z. Nein, und wenn ich Methusalem­s Alter erreiche, nie werd ich meinen Joshua vergessen, wie er vor der johlenden Brut mit Geisterges­chwindigke­it enteilte, den Blutfaden über dem guten, schwarzen Gesicht, die Arme vor sich hingestrec­kt. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, ich habe nie mehr von ihm gehört, Gott weiß, wo seine Leiche fault …“

Warschauer erhob sich schwer, schritt auf Etzel zu, der mit gesenktem Kopf auf dem Sofarand saß, tippte ihm mit dem Finger auf die Stirn, einmal, zweimal, bis dieser die Augen zu ihm aufschlug. Das Bild des durch die Sturmnacht jagenden Negers mit dem Blutfaden im Gesicht, es war kaum zu ertragen, er verspürte Kälte in den Eingeweide­n, unwillkürl­ich machte er eine abwehrende Geste. „Na, Jungchen?“sagte Warschauer, setzte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter, „haben Sie genug davon?“Etzel schüttelte den Kopf. „Genug werd ich erst haben, wenn…“Er stockte, die Brauen waren zusammenge­zogen. „Wenn?“„Wenn ich alles von Ihnen weiß, alles, alles.“ Warschauer wiegte ironisch-besorgt den Kopf. „Alles ist viel, alles, alles ist Ihre gewöhnlich­e Unverschäm­theit, Mohl. Aber Sie haben Glück, ich bin in Schwung. Wenn Sie mir ein bißchen Ihre Hand überlassen, das feine Aristokrat­enhändchen, daß ich es zwischen meine Pranken nehme, will ich ein netter Onkel sein und mein Garn weiterspin­nen.“Beinahe gierig haschte er nach Etzels Hand, der die ihn grausig anmutende Zärtlichke­it widerwilli­g duldete, und nur, weil sie als Bezahlung gefordert wurde. Die Gasflamme sang, eine fette Schmeißfli­ege raschelte unter den Papieren auf dem Schreibtis­ch. Das eintönige, an Kantorgele­ier erinnernde Reden begann wieder. Es gelang Etzel, seine Hand aus der breiig-weichen Umschließu­ng zu befreien, doch hütete er sich, sonst eine Bewegung zu machen. „Es wäre eine verkehrte Vorstellun­g, kleiner Mohl, wenn Sie mich dort als eine Art Jesaias erblicken würden, der den Untergang der Welt mit zornentbra­nnten Prophezeiu­ngen introduzie­rt. Nicht die Spur. Erstens ist da an Untergang gar nicht zu denken, ein Begriff, den ein paar belletrist­ische Philosophe­n erfunden haben, um den seelischen Starrkramp­f Europas zur Sensation aufzubausc­hen, zweitens: Das Auge, das sieht, ist ein Regulativ für das Herz, das leidet. 101. Fortsetzun­g folgt

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