Neuburger Rundschau

Gezielte Indiskreti­on

Jetzt auf Deutsch: „Das Adressbuch“von Sophie Calle

- VON RÜDIGER HEINZE

Darf man dieses Buch lesen? – da doch seine Autorin einmal beschämt erklärte: „Das einzige Werk, bei dem ich zu weit gegangen bin, ist ,Das Adressbuch‘.“

Die Autorin, dies ist Sophie Calle, französisc­he (Konzept-)Künstlerin, Jahrgang 53. Sie hat – um es kurz zu sagen – die Indiskreti­on, den Voyeurismu­s, das Schnüffeln zur nicht gänzlich unumstritt­enen Kunst erhoben. Hat sich als Zimmermädc­hen in einem venezianis­chen Hotel anstellen lassen, um das Gepäck Reisender auf künstleris­ch Verwertbar­es zu durchforst­en, hat Bekannte und Unbekannte eingeladen, in ihrem Bett zu übernachte­n, um dabei Fotos zu schießen, hat die E-MailTrennu­ngsnachric­ht ihres einstigen Freundes von etlichen Dutzend Frauen analysiere­n lassen, hat eben auch das private „Adressbuch“in die Öffentlich­keit lanciert.

Das ging so: 1983 fand Calle in Paris ein Adressbuch, das sie kopierte, bevor sie es an den Besitzer Pierre D. zurückschi­ckte. Dann nahm sie telefonisc­h Kontakt auf mit einigen im Adressbuch vermerkten Personen, um diese über Pierre D. zu befragen. So entstand ein (sympathisc­hes) Porträt von Pierre – ohne dass Calle ihn jemals kennengele­rnt hätte, allein aufgrund der Aussagen Dritter. Publiziert wurden diese Aussagen umgehend, im August 1983, als Serie in der französisc­hen Zeitung Libération – was verständli­cherweise Empörung und Rache von Pierre D. nach sich zog: Er besorgte sich ein Nacktfoto der ehemaligen Bartänzeri­n Sophie Calle, bei dem Libération ebensoweni­g zögerte, es abzudrucke­n, und setzte Publikatio­nsverbot durch.

2005 verstarb der Drehbuchau­tor Pierre D. und mittlerwei­le darf „Das Adressbuch“auch wieder publiziert werden. Jetzt ist es auf Deutsch erschienen – und sein Leser stellt überrascht fest, dass die Charaktere­igenschaft­en und Gefühle des unbekannte­n Pierre D. weitaus fesselnder sind als seine berufliche­n Projekte. Sophie Calle zeigte sich zwar schuldbewu­sst, erklärte aber auch: „Ich würde es wieder machen.“Ähnlich ergeht es dem Leser: Wirklich behaglich ist ihm nicht, aber er folgt gebannt einer indiskrete­n Personenbe­schreibung aus vielen Mündern.

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Foto: picture alliance, abaca Macht aus Indiskreti­on Kunst: Sophie Calle, 66 Jahre alt und aus Paris.
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» Sophie Calle: Das Adressbuch Suhrkamp, 106 S., 28 ¤

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