Neuburger Rundschau

Wenn das Herz Oberbayern­s fehlt

München soll ein eigener Regierungs­bezirk werden. So hat es Ministerpr­äsident Markus Söder vor wenigen Wochen angekündig­t. Nur: Was bleibt dann noch? Und was macht Oberbayern wirklich aus? Eine Reise von Nord nach Süd – jenseits der Landeshaup­tstadt

- VON FABIAN HUBER

Ingolstadt/Rosenheim Der Ort, der zum neuen Zentrum Oberbayern­s werden könnte, hat sich an diesem grauen Wintertag nicht sonderlich hübsch gemacht. Am Viktualien­markt haben nur wenige Imbisse geöffnet. Beim Daufratsho­fer zischt die Bratwurst schon länger auf dem Grill. Der einzige Gast, ein Mann mit Haarkranz, Weißbier und tiefem Bairisch, ratscht mit dem Verkäufer: über die Pflege. Klar, auch über den bestimmend­en Fußballklu­b, den FC Bayern. Und natürlich über die gestrichen­e Schicht beim größten Arbeitgebe­r der Stadt: Audi. Das neue politische Zentrum Oberbayern­s könnte bald nicht mehr München sein, sondern 80 Kilometer weiter nördlich liegen – in Ingolstadt.

Mitte Januar, Kloster Seeon, Auftritt von Markus Söder. Bei der Klausurtag­ung der CSU-Landtagsfr­aktion kündigt der bayerische Ministerpr­äsident an: Bis 2025 soll München ein eigener Regierungs­bezirk werden, 500 Beamte je nach Ingolstadt und Rosenheim abwandern, die dann das neue, restliche Oberbayern regieren. Eine Nachricht, die einschlägt, aber auch viele Beamte überrumpel­t hat. Die genauen Modalitäte­n soll eine Kommission von Innenminis­ter Joachim Herrmann nach den Kommunalwa­hlen im März klären.

Söder will den Freistaat mit seiner „Landesstra­tegie Bayern 2030“dezentrali­sieren. Ein Teil des Bauund Verkehrsmi­nisteriums ist schon nach Augsburg gewandert. In Hof gibt es ein neues Amt für Polizeimat­erialien. Und die geplante Verwaltung­sreform soll München entlasten und „passgenaue­re Lösungen“für die Landeshaup­tstadt anbieten, die seit der letzten Bezirksref­orm vor 180 Jahren um das Elffache gewachsen ist.

Nur: Wie soll das funktionie­ren – München aus dem Regierungs­bezirk Oberbayern auszuglied­ern? Weil Oberbayern ohne München ja klingt wie Weißwurst ohne Brezen, wie Mai ohne Maibaum. Und was bleibt von Bayerns wirtschaft­sstärkstem Regierungs­bezirk, wenn man sein geografisc­hes Zentrum abzieht? Und wie tickt Oberbayern jenseits des Mittleren Rings?

Die Reise durch den Regierungs­bezirk beginnt ganz im Norden. Im Alten Rathaus von Ingolstadt, Raum 101. In seinem Büro kann Oberbürger­meister Christian Lösel (CSU) den Stolz über „die Aufwertung des Standortes und der Region“nicht verbergen. Die 500 neuen Stellen sollen sich auch auf die umliegende­n Landkreise verteilen. Lösel wurde in Seeon erst im letzten Moment in das Projekt eingeweiht. Dabei sollte er in Seeon über die Herausford­erungen seiner Stadt als Automobils­tandort sprechen.

Für Lösel ist es eine gute Nachricht in schweren Zeiten. Durch das Rathaus wandern die Geister des Vorgängers Alfred Lehmann, der wegen einer Korruption­saffäre zwei Jahre auf Bewährung verurteilt wurde. Audi hat den Dieselskan­dal noch nicht richtig verdaut und muss zugleich am möglichst skandalfre­ien Übergang zum Elektroaut­o schrauben. Der ansässige Elektrokon­zern Media Markt Saturn ist auf Sparkurs. Kein Wunder, dass Lösel froh ist über Söders Pläne. „Diese Nachricht kommt zum absolut richtigen Zeitpunkt. Sie dient der Differenzi­erung unseres Arbeitsmar­ktes. Das sind konjunktur­unabhängig­e Stellen“, sagt der Stadtchef.

Der Standort wächst ja trotz allem: Audi hat jetzt einen eigenen Bahnhalt. Rathausnah entsteht ein

Drei geplante Bürotürme, quer durch die Stadt verteilt, kann sich Lösel als neuen Verwaltung­ssitz vorstellen. Da ist es logisch, dass Lösel „den Sitz des Regierungs­präsidente­n natürlich hier haben“will und „das wirtschaft­liche Schwerlast­zentrum Oberbayern­s“zum alleinigen Regierungs­sitz machen will. Dass man in Rosenheim darüber ganz anders denkt, liegt auf der Hand.

Für einen Oberbayern macht es eigentlich auch keinen Unterschie­d, ob die Bezirksreg­ierung in Ingolstadt, München oder Rosenheim sitzt. Diese fungiert als Aufsichtsb­ehörde von Kreisen und kreisfreie­n Städten: Sie koordinier­t die Flüchtling­sunterbrin­gung, den Katastroph­enschutz, fördert etwa Schulbaute­n und Feuerwehre­n – als Scharnier zwischen Freistaat und Kommunen. Eine Verwaltung­sebene, mit der der normale Bürger nur in den seltensten Fällen zu tun hat.

Abfahrt gen Süden. Am Fahrbahnra­nd warten abgeerntet­e Felder darauf, dass der nächste Sommer kommt. Die Hallertau ist als Hopfenkamm­er bekannt: Ein Drittel der weltweiten Hopfenmeng­e wird hier produziert und in mehr als hundert Länder exportiert. Je weiter man fährt, desto hügeliger wird das Land, die Dörfer versprengt­er und die Aorta Oberbayern­s, besser bekannt als A9, mit jedem Kilometer, den man München näher kommt, verstopfte­r. Also Abfahrt bei Allershaus­en, weit vor der Landeshaup­tstadt.

Im Büro von Bernhard Döring am Rande der Dachauer Altstadt brennt an diesem Abend noch Licht. Seit zehn Jahren arbeitet er als Immobilien­makler in der Stadt. „Damals war ein Daumenwert zehn Euro pro Quadratmet­er – warm“, erzählt der 40-Jährige. „Jetzt sind wir bei 13, 14 Euro – kalt. Die Mietpreise steigen, steigen, steigen.“

Wer als Dachauer im Ausland erklären muss, woher er kommt, sagt gerne, man sei aus der Nähe von München. Der Ruf Dachaus ist historisch bedingt nicht der beste. Aber auch so ist der benachbart­e Gigant jederzeit spürbar. Viele hier arbeiten in München – ob bei MAN, BMW oder Siemens. Und schlafen in Dachau. 28000 Menschen pendelten 2018 täglich in diese Richtung, wie aus Zahlen der Bundesagen­tur für Arbeit hervorgeht. Weil das immer noch günstiger ist als ein Apartment in Schwabing, aber teuer genug, um zu zeigen: München macht nicht an seinen Stadtgrenz­en halt. Sein Geltungsbe­reich fließt in die Breite wie ein Tropfen Tinte auf Löschpapie­r.

Natürlich orientiert sich der Immobilien­markt nicht daran, ob die Landeshaup­tstadt ein eigener ReGemeinde gierungsbe­zirk wird. Trotzdem stellt sich doch die Frage: Wo zieht man die Grenze eines neuen Regierungs­bezirks? Soll er genauso groß sein wie die Stadt München? Nimmt man den Landkreis München dazu? Oder auch München und die umliegende­n Städte wie Dachau? Immobilien­makler Döring glaubt, dass ein neuer Regierungs­bezirk München, wenn schon, den Speckgürte­l mit einschließ­en müsste. Nur was der bringen soll, da bleibt er skeptisch. „Ich sehe, ehrlich gesagt, den großen Vorteil und die Sinnhaftig­keit dieser Reform nicht. Ich glaube, es ist eine zusätzlich­e Verwaltung­sinstanz.“

Im Feierabend­verkehr geht es weiter, immer vorbei an München, vorbei an Industriep­arks, vorbei an Fürstenfel­dbruck auf der B471. Während Söder an diesem Tag Wladimir Putin trifft und der potenziell­e Muexit noch fünf Jahre in der Zukunft liegt, fühlt sich Eresing – eine

westlich des Ammersees im Kreis Landsberg – an wie oberbayeri­sches Landleben unter dem Brennglas.

Die Hauptstraß­e heißt Hauptstraß­e, mündet in die Mittlere Dorfstraße, die zur Kirchstraß­e wird, um deren Ecke das alte Wirtshaus „Alter Wirt“gut besucht ist. Neben dem Kachelofen und unter Holzbalken sitzt Charly allein am Stammtisch, vor ihm ein „Reserviert“-Pappschild. Die Wirtin sagt: „Irgendwer kommt immer.“

Und im Nebenraum, da fragen sich Bürgermeis­ter Josef Loy und seine Dorfgemein­schaft Eresing, eine parteilose Wählergrup­pierung, angesichts der Verwaltung­sreform: Warum? Und was steckt dahinter? „Wir sind noch nicht darauf gekommen“, sagt Loy.

In Eresing gibt es den Schafkopfv­erein „Gut Blatt“, einen Soldatenve­rein, den Schützenve­rein „Gemütlichk­eit“. Und das bei 1800 Einwohnern. Auch das, sagt Loy, mache Oberbayern aus. Trotzdem nennt man sich hier eher Lechrainer als Oberbayer, orientiert sich aber nach München. Mit der S4 ist man in 40 Minuten in der Landeshaup­tstadt, über die A96 braucht man eine halbe Stunde. „Wenn frei ist“, sagt einer in der Runde. Jeder lacht. Weil in den seltensten Fällen frei ist. Gemeindera­t Peter Waas sagt: „Wir haben noch ländlichen Charakter. Aber umso schneller alles wächst, umso schneller ist der weg.“

Bürgermeis­ter Loy kennt auch die Kehrseite. Der CSU-Mann sitzt im Bezirkstag, dem Sozialparl­ament der Kommunen, das unabhängig vom Freistaat agiert und verantwort­lich vor allem für Pflege und die klinische Versorgung ist, auch wenn das nur wenige Bürger so wahrnehmen. Und – im Gegensatz zur BeKongress­zentrum. zirksregie­rung – von unten nach oben finanziert ist, über eine Bezirksuml­age.

Die Stadt und der Landkreis München waren 2018 größter Nettozahle­r des oberbayeri­schen Bezirksrat­s. Das heißt: Fast 180 Millionen Euro haben sie mehr gezahlt als bekommen. Dem Kreis Landsberg, zu dem Eresing gehört, blieben dagegen gut 8,4 Millionen. Ob München nicht nur aus der Regierung, sondern auch aus dem Bezirk herausfall­en würde, ist unklar. Ernste Folgen hätte es allemal. Von einer „deutlichen Mehrbelast­ung“für die verbleiben­den Kommunen schreibt eine Sprecherin des Bezirkstag­s. „Der Rest Oberbayern­s würde finanziell untergehen“, sagt Bezirksrat Loy.

Der nächste Morgen. Nach Rosenheim sind es 130 Landstraße­nkilometer, der Sonne entgegen, rechts die Alpen, links München – gefühlt weit weg. Nebeldunst über schneebede­ckten Äckern, holzverkle­idete Häuser, die Berge rücken näher.

Die Reise durch das neue, restliche Oberbayern endet, wo sie angefangen hat: in einem Oberbürger­meisterbür­o mit der Zimmernumm­er 101, am anderen Ende des Regierungs­bezirks, bei Gabriele Bauer in Rosenheim. Wie groß der Einfluss von München hier ist? Sie lacht leicht pikiert, sagt aber: „Wir befruchten uns gegenseiti­g.“Rosenheime­r pendeln ins gut 60 Kilometer entfernte München, Münchner besuchen Rosenheim. Der Bahnhof quillt über. Und das Angebot einer Millionens­tadt nimmt man natürlich

„Diese Nachricht kommt zum absolut richtigen Zeitpunkt.“Christian Lösel, Ingolstädt­er OB

„Der Rest Oberbayern­s würde finanziell untergehen.“

Josef Loy Bürgermeis­ter Eresing

gern mit. Bauer selbst will in München Philosophi­e studieren.

Im Vergleich zu Ingolstadt kommt der zweite, mögliche Sitz einer neuen Regierung von Oberbayern kleiner daher. 63000 statt 139000 Einwohner, starke Innenstadt statt Outlet-Center und Riesen-Mall, Mittelstan­d statt Audi. Bauer unterschei­det zwischen der „tendenziel­l monostrukt­urellen Großindust­rie“Ingolstadt­s und einer „Tourismusr­egion mit mittelstän­dischen Unternehme­n“in Rosenheim mit Betrieben aus Holzund Kunststoff­industrie. Wie Bürgermeis­ter-Kollege Lösel versteht auch Bauer ihre Stadt zu vermarkten – und Söders Idee: „Die Verwaltung wäre wesentlich bürgernähe­r“, sagt die CSU-Frau. Aber: „Ein Baubereich in Rosenheim und ein Bereich Wirtschaft und Verkehr in Ingolstadt würden keinen Sinn machen. Wir brauchen eine spiegelbil­dliche Verteilung. Dass das funktionie­ren kann, sehen wir an den Polizeidir­ektionen.“Oberbayern ist hier bereits in die Präsidien München, Oberbayern Nord in Ingolstadt und Oberbayern Süd in Rosenheim gegliedert.

Von Lösels Hauptstadt-Fantasien hält sie wenig. „Ich sehe das anders. Man zerteilt nicht das Fleisch des Wolfes, bevor man ihn erlegt hat.“Ist das passiv-aggressive Ehrlichkei­t? Typisch oberbayeri­sch? und wenn ja, was heißt das dann?

Für Ingolstadt­s Oberbürger­meister Lösel ist Oberbayern „der schönste Flecken Erde, den man sich vorstellen kann“, für Makler Döring aus Dachau „die Natur, die Seen, die Nähe zu den Bergen“, für den Eresinger Bürgermeis­ter „das ehrenamtli­che Engagement im Dorf“und für die Rosenheime­r Oberbürger­meisterin Bauer einfach nur die Attraktivi­tät.

Anderersei­ts ist es doch aber auch so: Man kann weit weg sein vom großen Viktualien­markt und vom Marienplat­z, sich eigenständ­ig fühlen, den Mittleren Ring links liegen lassen – und trotzdem ist Oberbayern immer auch ein Stück München.

 ??  ?? Oberbayern ohne München – wie soll das gehen? Und was bleibt, wenn man die Landeshaup­tstadt ausglieder­t, die nicht nur geografisc­h das Herz Oberbayern­s ist?
Oberbayern ohne München – wie soll das gehen? Und was bleibt, wenn man die Landeshaup­tstadt ausglieder­t, die nicht nur geografisc­h das Herz Oberbayern­s ist?
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany