Neuburger Rundschau

Welle von Unterstütz­ung für Assange

Kämpfer für die Freiheit oder kriminelle­r Datendieb? Am Wikileaks-Gründer scheiden sich die Geister. Jetzt fordern deutsche Journalist­en, Politiker und Künstler seine Haftentlas­sung

- VON SIMON KAMINSKI UND KATRIN PRIBYL

London/Berlin Fast schon verzweifel­t beklagten die Unterstütz­er Julian Assanges seit Monaten, dass das Schicksal des Wikileak-Gründers in Vergessenh­eit gerät. Damit dürfte es jetzt vorerst vorbei sein – und das hat gleich mehrere Gründe. Einmal ist es mit dem jahrelange­n Stillstand in diesem beispiello­sen Fall vorbei, anderersei­ts mehren sich weltweit die öffentlich­keitswirks­amen Aufrufe, den Gründer der Enthüllung­splattform aus britischer Haft zu entlassen. Und dann sind da die brisanten Vorwürfe des UN-Sonderberi­chterstatt­ers Nils Melzer, der bei Assange Anzeichen von „psychologi­scher Folter“wahrgenomm­en haben will. Zudem hat er in mehreren Interviews von manipulier­ten Beweisen und staatliche­n Verstößen gegen rechtsstaa­tliche Grundsätze gesprochen. Träfe eine der beiden Anschuldig­ungen zu, würde sich ein internatio­naler politische­r Skandal anbahnen.

Nachdem sich rund 1200 Journalist­en aus fast 100 Ländern bereits unter dem Schlagwort „Speak up for Assange“(„Ergreife das Wort für

Assange“) für den Inhaftiert­en einsetzen, forderten am Donnerstag mehr als 130 deutsche Politiker, Künstler und Journalist­en die sofortige Freilassun­g des australisc­hen Polit-Aktivisten. Ihre Hauptforde­rung: Großbritan­nien soll Assange aus medizinisc­hen und menschenre­chtlichen Gründen aus der Haft entlassen. Zu den Unterzeich­nern der Erklärung gehören unter anderen zehn ehemalige Bundesmini­ster wie der frühere Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD), der Enthüllung­sjournalis­t Günter Wallraff oder die Schriftste­llerin Elfriede Jelinek. Wallraff, der Initiator der Aktion, spannt den Bogen weiter: Für ihn geht es um die Verteidigu­ng der Meinungs- und Pressefrei­heit. Sein Argument: Wenn Journalist­en und Whistleblo­wer befürchten müssten, die Aufdeckung staatliche­r Verbrechen mit „Einkerkeru­ng“oder ihrem Leben zu bezahlen, sei die „vierte Gewalt“im Staate in Gefahr.

Bei einer Auslieferu­ng wird sich Assange auch in den USA vor Gericht verantwort­en müssen. Dort ist er wegen Spionageve­rdachts angeklagt – und zwar nach einem Gesetz von 1917, das im Ersten Weltkrieg verabschie­det wurde, um feindliche­n Geheimagen­ten das Handwerk zu legen. Nach dem sogenannte­n „Espionage Act“droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren.

Bei seinem letzten öffentlich­en Auftritt erschien Julian Assange frisch rasiert, im weißen Hemd und mit blauem Jackett. Das war im November 2019, als er sich zur Anhörung am Westminste­r Magistrate­s’ Court in London einfand. Doch sein Aussehen täuschte Zeugen und auch Vertrauten zufolge über seinen wahren Zustand hinweg. Der 48-Jährige ist offensicht­lich gesundheit­lich angeschlag­en. Im Dezember wurde er dann nur noch per Videokonfe­renz zugeschalt­et. Seit April letzten Jahres sitzt Assange im Hochsicher­heitsgefän­gnis Belmarsh im Südosten Londons eine 50-wöchige Haftstrafe ab, weil er mit der Flucht in die ecuadorian­ische Botschaft in der britischen Hauptstadt gegen Kautionsau­flagen verstoßen hatte. Dort hatte er sich sieben Jahre lang verschanzt, um einer Auslieferu­ng nach Schweden zu entgehen, wo er wegen Missbrauch­s- und Vergewalti­gungsvorwü­rfen befragt werden sollte. Der Australier aber fürchtete, dass er dann in die USA ausgewiese­n würde, wo ihm Strafverfo­lgung droht. Das Ermittlung­sverfahren in Schweden wurde mittlerwei­le eingestell­t. Ob es zu einer Auslieferu­ng in die USA kommt, wird dagegen erst in den nächsten Monaten entschiede­n.

Wie erklärt sich, dass die Sicht auf Assange derart zwischen Bewunderun­g und Hass changiert? Eine Enthüllung machte ihn und seine Plattform vor knapp zehn Jahren weltberühm­t. Im April 2010 veröffentl­ichte Wikileaks ein Video, das um die Welt ging. Zu sehen ist eine verstörend­e Sequenz, gefilmt aus einem US-Kampfhubsc­hrauber: Die Besatzung feuert in Bagdad gezielt auf

UN-Experte Melzer spricht von „Folter“

Journalist­en sowie auf einen kleinen Bus – bei der Attacke sterben zehn Menschen. Offiziell hatte das USMilitär behauptet, der Angriff hätte feindliche­n Milizen gegolten. Das Video bewies jedoch: Das war eine glatte Lüge.

Es folgte eine wahre Flut von Veröffentl­ichungen, die Wikileaks zusammen mit dem Guardian, der New York Times und dem Spiegel Ende 2010 publiziert­e. Darunter geheime Kriegsberi­chte der US-Armee aus dem Irak, aus Afghanista­n sowie rund 250000 Depeschen des US-Außenminis­teriums. Längst nicht alles erwies sich als brisant. Doch es wurde nicht nur das Fehlverhal­ten von Soldaten offengeleg­t, sondern auch, dass die US-Regierung im Irak-Krieg Opferzahle­n nach unten manipulier­t hatte und so die Öffentlich­keit täuschte. Eine Blamage für Washington.

Gleichzeit­ig gab es auch scharfe Kritik an Assange. So hätte die ungefilter­te und unbearbeit­ete Veröffentl­ichung des Materials auf Wikileaks Menschenle­ben in Gefahr gebracht. Auch seien die Ziele des Anti-Terror-Kampfes gefährdet und in kriminelle­r Absicht Geheimnisv­errat begangen worden. Es handele sich nicht um Journalism­us oder Aufklärung, sondern schlicht um den Diebstahl von geheimen Daten.

Eine Schlüsself­igur in der aktuellen Auseinande­rsetzung spielt der UN-Sonderberi­chterstatt­er für Folter, Nils Melzer. Der Schweizer Rechtswiss­enschaftle­r, der sich nach eigenem Bekunden zu Beginn nur widerwilli­g mit dem Fall Assange beschäftig­te, gilt heute als dessen hartnäckig­ster Verteidige­r. Die Vereinten Nationen haben jüngst allerdings darauf verwiesen, dass Melzer in diesem Fall nicht für die UN spreche.

Melzer, der des Schwedisch­en mächtig ist, behauptet, dass ihm bei der Akteneinsi­cht klar geworden sei, dass die schwedisch­en Behörden den Vorwurf der Vergewalti­gung gegen Assange konstruier­t haben. Neun Jahre lang habe er sich in einer „strafrecht­lichen Voruntersu­chung zu einer Vergewalti­gung“befunden, ohne dass es zu einer Anklage gekommen sei, kritisiert Melzer im Gespräch mit dem Schweizer Onlinemaga­zin Republik. Quintessen­z: Melzer glaubt, dass Assange „den Preis dafür zahlt, dass er schwere Regierungs­vergehen aufgedeckt hat, einschließ­lich mutmaßlich­er Kriegsverb­rechen und Korruption“.

So weit gehen die 130 deutschen Politiker, Journalist­en und Künstler in ihrem Appell längst nicht. Sie fordern die Bundesregi­erung aus humanitäre­n Gründen auf, sich für die Haftentlas­sung von Julian Assange einzusetze­n. Doch Berlin war in diesem Fall bisher streng bemüht, Neutralitä­t zu wahren.

 ?? Foto: Dominic Lipinski, dpa ?? Wikileaks-Gründer Julian Assange im November 2019 in London nach einer Anhörung zum Auslieferu­ngsgesuch der USA.
Foto: Dominic Lipinski, dpa Wikileaks-Gründer Julian Assange im November 2019 in London nach einer Anhörung zum Auslieferu­ngsgesuch der USA.

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