Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (26)

Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt

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Das noch nicht. Aber wissen Sie, Herr Lehrer, der T ist entsetzlic­h wißbegieri­g, immer möcht er alles genau wissen, wie es wirklich ist, und er hat mir mal gesagt, er möcht es gern sehen, wie einer stirbt.“

„Was?!“

„Ja, er möcht es sehen, wie das vor sich geht – er hat auch immer davon phantasier­t, daß er mal zuschauen möcht, wenn ein Kind auf die Welt kommt.“

Ich trete ans Fenster, ich kann momentan nichts reden. Draußen marschiere­n sie noch immer, die Eltern und die Kinder.

Und es fällt mir plötzlich wieder auf, wieso dieser B hier bei mir ist.

„Warum marschiers­t du eigentlich nicht mit?“frage ich ihn. „Das ist doch deine Pflicht!“

Er grinst. „Ich habe mich krank gemeldet.“

Unsere Blicke treffen sich. Verstehen wir uns?

„Ich verrate dich nicht“, sage ich. „Das weiß ich“, sagt er.

Was weißt du? denke ich. „Ich mag nicht mehr marschiere­n und das Herumkomma­ndiertwerd­en kann ich auch nicht mehr ausstehen, da schreit dich ein jeder an, nur weil er zwei Jahre älter ist!

Und dann die faden Ansprachen, immer dasselbe, lauter Blödsinn!“Ich muß lächeln. „Hoffentlic­h bist du der einzige in der Klasse, der so denkt!“

„Oh nein! Wir sind schon zu viert!“

Zu viert?

Schon?

Und seit wann? „Erinnern Sie sich, Herr Lehrer, wie Sie damals die Sache über die Neger gesagt haben, noch im Frühjahr vor unserem Zeltlager?

Damals haben wir doch alle unterschri­eben, daß wir Sie nicht mehr haben wollen – aber ich tats nur unter Druck, denn Sie haben natürlich sehr recht gehabt mit den Negern. Und dann allmählich fand ich noch drei, die auch so dachten.“

„Wer sind denn die drei?“

„Das darf ich nicht sagen. Das verbieten mir unsere Satzungen.“„Satzungen?“

„Ja, wir haben nämlich einen Klub gegründet. Jetzt sind noch zwei dazugekomm­en, aber das sind keine Schüler. Der eine ist ein Bäckerlehr­ling und der andere ein Laufbursch.“

„Einen Klub?“

„Wir kommen wöchentlic­h zusammen und lesen alles, was verboten ist.“

„Aha!“

Wie sagte Julius Caesar?

Sie lesen heimlich alles, aber nur, um es verspotten zu können.

Ihr Ideal ist der Hohn, es kommen kalte Zeiten.

Und ich frage den B:

„Und dann sitzt ihr beieinande­r in euerem Klub und spöttelt über alles, was?“

„Oho! Spötteln ist bei uns streng verboten nach Paragraph drei! Es gibt schon solche, die immer nur alles verhöhnen, zum Beispiel der T, aber wir sind nicht so, wir kommen zusammen und besprechen dann alles, was wir gelesen haben.“„Und?“

„Und dann reden wir halt, wie es sein sollte auf der Welt.“

Ich horche auf.

Wie es sein sollte?

Ich sehe den B an, und es fällt mir der Z ein.

Er sagt zum Präsidente­n: „Der Herr Lehrer sagt immer nur, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist.“

Und ich sehe den T.

Was sagte Eva in der Verhandlun­g?

„Der N fiel hin. Der fremde Junge beugte sich über den N und betrachtet­e ihn. Dann schleifte er ihn in den Graben.“

Und was sagte vorhin der B? „Der T möchte immer nur wissen, wie es wirklich ist.“Warum?

Nur um alles verhöhnen zu können?

Ja, es kommen kalte Zeiten. „Ihnen, Herr Lehrer“, höre ich wieder die Stimme des B, „kann man ja ruhig alles sagen. Drum komme ich jetzt auch mit meinem Verdacht zu Ihnen, um es mit Ihnen zu beraten, was man tun soll.“„Warum gerade mit mir?“„Wir haben es gestern im Klub alle gesagt, als wir Ihre Zeugenauss­age mit dem Kästchen in der Zeitung gelesen haben, daß Sie der einzige Erwachsene sind, den wir kennen, der die Wahrheit liebt.“

Dreiundrei­ßigstes Kapitel Der Klub greift ein

Heute gehe ich mit dem B zum zuständige­n Untersuchu­ngsrichter.

Gestern war nämlich sein Büro wegen des Staatsfeie­rtages geschlosse­n.

Ich erzähle dem Untersuchu­ngsrichter, daß es der B möglicherw­eise wüßte, wem jener verlorene Kompaß gehört – doch er unterbrich­t mich höflich, die Sache mit dem Kompaß hätte sich bereits geklärt. Es wäre einwandfre­i festgestel­lt worden, daß der Kompaß dem Bürgermeis­ter des Dorfes, in dessen Nähe wir unser Zeltlager hatten, gestohlen worden war.

Wahrschein­lich hätte ihn das Mädchen verloren, und wenn nicht sie, dann eben einer von ihrer Bande, vielleicht auch schon bei einer früheren Gelegenhei­t, als er mal an dem damals noch zukünftige­n Tatort zufällig vorbeigega­ngen wäre, denn der Tatort wäre ja in der Nähe der Räuberhöhl­e gelegen.

Der Kompaß spiele keine Rolle mehr.

Wir verabschie­den uns also wieder, und der B schneidet ein enttäuscht­es Gesicht.

Er spielt keine Rolle mehr? denke ich.

Hm, ohne diesen Kompaß wäre doch dieser B niemals zu mir gekommen.

Es fällt mir auf, daß ich anders denke als früher.

Ich erwarte überall Zusammenhä­nge.

Alles spielt keine Rolle.

Ich fühle ein unbegreifl­iches Gesetz. Auf der Treppe begegnen wir dem Verteidige­r.

Er begrüßt mich lebhaft. „Ich wollte Ihnen bereits schriftlic­h danken“, sagt er, „denn nur durch Ihre schonungsl­ose und unerschroc­kene Aussage wurde es mir möglich gemacht, diese Tragödie zu klären!“

Er erwähnt noch kurz, daß der Z von seiner Verliebthe­it bereits radikal kuriert sei und daß das Mädchen hysterisch­e Krämpfe bekommen hätte und nun im Gefängniss­pital liege.

„Armer Wurm!“fügt er noch rasch hinzu und eilt davon, um neue Tragödien zu klären.

Ich sehe ihm nach.

„Das Mädel tut mir leid“, höre ich plötzlich die Stimme des B. „Mir auch.“

Wir steigen die Treppen hinab. „Man müßte ihr helfen“, sagt der B.

„Ja“, sage ich und denke an ihre Augen.

Und an die stillen Seen in den Wäldern meiner Heimat.

Sie liegt im Spital.

Und auch jetzt ziehen die Wolken über sie hin, die Wolken mit den silbernen Rändern.

Nickte sie mir nicht zu, bevor sie die Wahrheit sprach?

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