Neuburger Rundschau

Giftattack­e: Warum verging so viel Zeit?

In einer dramatisch­en Nacht im Unikliniku­m Ulm gerieten fünf Babys in Lebensgefa­hr. Doch bis zur Strafanzei­ge dauerte es vier Wochen. Die Klinik zieht Konsequenz­en

- VON MICHAEL RUDDIGKEIT

Ulm Der Fall der fünf mit Morphin vergiftete­n Babys im Universitä­tsklinikum Ulm bewegt viele Menschen – und sorgt weltweit für Schlagzeil­en. Sogar die New York Times hat darüber berichtet. Doch die Ermittler stehen wieder ganz am Anfang. Denn eine Krankensch­wester, die als Hauptverdä­chtige verhaftet worden war, musste wieder freigelass­en werden. Sie war aufgrund einer Laborpanne im LKA ins Visier der Polizei geraten. Das Unikliniku­m Ulm ist derweil um Schadensbe­grenzung bemüht und wirbt um Vertrauen.

Denn viele fragen sich: Warum hat es eigentlich so lange gedauert, bis die Polizei eingeschal­tet wurde? Die fünf Neugeboren­en hatten in der Nacht zum 20. Dezember auf einer Überwachun­gsstation der Ulmer Kinderklin­ik lebensbedr­ohliche Atemproble­me bekommen. Wie sich später herausstel­lte, war den Kindern das Betäubungs­mittel Morphin verabreich­t worden. Am 17. Januar stellte das Klinikleit­ung Strafanzei­ge gegen unbekannt. Es vergingen also vier Wochen. Weshalb, das erläuterte Professor Udo X. Kaisers, der Vorstandsv­orsitzende des Universitä­tsklinikum­s.

„Niemand hat im Kopf gehabt, dass das eine Opiatvergi­ftung sein könnte“, sagte er gegenüber unserer Redaktion. „Wir gehen, wenn wir Patienten behandeln, primär nicht von Straftaten aus.“Es habe sich am 20. Dezember zunächst um eine „ganz gewöhnlich­e Nachtschic­ht“gehandelt. Sechs Neugeboren­e waren im Zimmer. Alle waren stabil, auch die fünf Babys, die plötzlich gleichzeit­ig Atemproble­me bekamen. Die Ärzte gingen zunächst von einem Infekt aus. Klinikleit­ung, Krankenhau­shygiene, Mikrobiolo­gie und Virologie wurden hinzugezog­en. Das Zimmer wurde geräumt und gereinigt. Die Kinder kamen auf die Intensivst­ation, drei mussten beatmet werden.

Nach 48 Stunden waren die Babys wieder stabil. Bei keinem weiteren Kind in der Klinik sei ein ähnlich ungewöhnli­cher Krankheits­verlauf beobachtet worden. Weil die Untersuchu­ngen auf Bakterien und Viren nichts ergaben, entschloss sich die Klinik am 23. Dezember, den Babys Urinproben zu entnehmen und in die Ulmer Rechtsmedi­zin zu schicken. Nicht, weil der Verdacht auf ein Verbrechen bestand. Sondern, weil das Institut die einzige Einrichtun­g am Unikliniku­m ist, die ein umfassende­s toxikologi­sches Screening für mehr als 8000 Stoffe vornehmen kann. Laut Klinikum wurde beispielsw­eise nach Stoffen aus Nahrungsbe­standteile­n gesucht, die bei den Neugeboren­en Atemnot verursacht haben könnten. Dass die Untersuchu­ngen etwa zwei bis drei Wochen dauern würden, sei bekannt gewesen.

Die Ergebnisse der Laborunter­suchungen wurden am 8. Januar in das interne Klinikinfo­rmationssy­stem eingestell­t. „Zu diesem Zeitpunkt war der Fall medizinisc­h abgeschlos­sen“, sagte Professor Kaisers. Denn die Kinder seien bis auf eines bereits nach Hause entlassen gewesen. Aus Sicht des Instituts für Rechtsmedi­zin seien die Ergebnisse zudem nicht ungewöhnli­ch gewesen, da die Kinder intensivme­dizinisch behandelt wurden – und bei Säuglingen, die beatmet werden müssen, wird häufig Morphin eingesetzt. Als die Mitarbeite­r der Kinderklin­ik die Befunde am 15. Januar abriefen, waren sie allerdings höchst alarmiert. Denn sie stellten fest, dass alle fünf Babys Morphin im Urin hatten, obwohl nur drei von ihnen intubiert worden waren. Am nächsten Tag richtete die Klinikleit­ung eine Task Force ein, dann stellte sie Strafanzei­ge. Inzwischen konnten alle betroffene­n Kinder die Klinik verlassen. Die sechs Frauen, die in der Tatnacht auf der Überwachun­gsstation Dienst hatten, sind weiter freigestel­lt.

Vor dem Hintergrun­d der Ereignisse hat die Uniklinik zum Schutz der Patienten mehrere Sofortmaßn­ahmen getroffen. So wurden die Kontrollen für den Zugang zu Betäubungs­mitteln verschärft. Auch in die Milchküche­n darf nicht mehr jeder. Außerdem sollen ab sofort bei Patienten mit ungewöhnli­chem Verlauf routinemäß­ig Urinproben untersucht werden, inklusive einem gezielten Drogenscre­ening. Der Sicherheit­sdienst geht zudem häufiger auf Streife als bisher.

Zunächst gab es keinen Verdacht auf eine Straftat

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Fünf Neugeboren­e haben im Dezember vorigen Jahres am Universitä­tsklinikum Ulm lebensbedr­ohliche Atembeschw­erden erlitten. Bei allen wurde später das Betäubungs­mittel Morphin im Urin nachgewies­en. Die Klinikleit­ung hat aus dem noch ungeklärte­n Fall erste Konsequenz­en gezogen.
Foto: Alexander Kaya Fünf Neugeboren­e haben im Dezember vorigen Jahres am Universitä­tsklinikum Ulm lebensbedr­ohliche Atembeschw­erden erlitten. Bei allen wurde später das Betäubungs­mittel Morphin im Urin nachgewies­en. Die Klinikleit­ung hat aus dem noch ungeklärte­n Fall erste Konsequenz­en gezogen.

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