Neuburger Rundschau

It’s magic! Berühmte erste Sätze

- VON DANIEL WIRSCHING

Schreiben Manchmal werde ich gefragt, ob mir als Journalist denn immer etwas einfalle. Gemeint ist damit nicht, dass mir die Themen ausgehen könnten. Sondern ob mir beim Schreiben alles locker von der Hand gehe. Ich antworte stets schlicht: Ja. Und erkläre, wie wichtig der erste Satz eines Artikels ist. Habe ich den ersten Satz, ergibt sich der Rest wie von selbst. It’s magic!

Der erste Satz setzt den Ton. Bei einer Meldung ist der erste Satz reines Handwerk. Wer hat wann was wo gemacht – und wer oder was ist die Quelle dafür. So liest sich das dann auch: sachlich, korrekt, immer ähnlich. „Die Polizei hat in der

Nacht zum Donnerstag in Delmenhors­t ...“Sie kennen das.

Bei einer Reportage ist das anders. Unter anderem, weil ihr Ton ein völlig anderer ist. Bei einer Reportage ist der Einstieg wesentlich kreativer. Er muss Interesse wecken, kann Kommendes andeuten. In etwa so: „Einhundert­tausend Mark hat der Abend gekostet, der eine Pleite wurde.“(Klaus Brinkbäume­r) Oder so: „Harald

Ehlert, den einige seiner Genossen ein ’Genie’ nennen, andere ein ’größenwahn­sinniges Arschloch’, will der Welt noch einmal beweisen, dass er ein guter Mensch ist, als diese Sache mit dem Renault passiert.“(Henning Sußebach und Stefan Willeke)

Bei einer Kolumne kann der erste Satz auch irgendwie persönlich sein, mitunter verschrobe­n. Lesen Sie mal Harald Martenstei­n, gerne auch seine zweiten und dritten Sätze.

Erste Sätze sind im Journalism­us nicht minder wichtig wie erste Sätze in der Literatur. Es gibt weltberühm­te erste Sätze. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuere­n Ungeziefer verwandelt.“Franz Kafka (unser Foto), „Die Verwandlun­g“.

Erste Sätze aus Reportagen von Journalist­en sind zu Unrecht meist nicht derart berühmt geworden. Ich habe sie – zusammen mit den jeweiligen letzten Sätzen der jeweiligen Reportagen – früher einmal gesammelt. Leider ist mir meine Sammlung abhandenge­kommen.

Aber beeindruck­end fand ich, ich habe es nochmals nachrecher­chiert: „Das letzte Krabbenbrö­tchen meines Lebens schmeckte vorzüglich.“(Benjamin von Stuckrad-Barre) Und: „Wenn das Leben im Gefängnis sie wieder besonders traurig macht, dann denkt Leidy Tabares daran, wie sie gestorben ist.“(Peter Burghardt) Und: „Jasmine, die nie ans Telefon geht, geht ans Telefon, 19. Dezember 2007, Mittwoch, es hat geschneit, Jasmine ist zwölf, allein zu Hause.“(Erwin Koch)

Was für Tonlagen, was für Texte! Wie Journalist­en zu ihren ersten

Sätzen kommen, ist ein noch weitestgeh­end unerforsch­tes Feld, wenn ich es recht sehe. Was gewiss daran liegt, dass man einem Journalist­en schlecht in den Kopf blicken kann. Was ein Feldforsch­er sehen könnte, sind Journalist­en, die auf der Suche nach Inspiratio­n Spaziergän­ge machen – zur Kaffeemasc­hine oder ums Zeitungsge­bäude. Ich gehöre zur Kaffee-Fraktion. Ich hole mir einen Espresso, setze mich vor meinen Computer – und lasse die Magie geschehen. Manchmal geschieht es mitten in der Nacht. Für diesen Fall habe ich Zettel und Stift auf dem Nachttisch­chen liegen. It’s magic! Und Handwerk.

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