„Ich sage, was ich denke, verdammt!“
In Frankreich beleidigt Mila, 16, in einem Video den Islam. Seither fürchtet die Jugendliche um ihr Leben. Sie taucht unter, wird mit ihrer Familie unter Polizeischutz gestellt. Politiker schalten sich ein. Und das Land fragt sich: Wie weit darf Religions
Paris Es ist die dritte Woche, in der Mila nicht in der Schule ist. Die 16-Jährige aus der Nähe von Lyon versteckt sich an einem unbekannten Ort vor all denen, die sie seit Wochen über die sozialen Netzwerke bedrohen. Bis zu 200 hasserfüllte Nachrichten soll sie pro Minute bekommen. Meist sind die Verfasser anonym, die schreiben, sie wollten die „gottlose Schlampe“verbrennen, „in Fetzen reißen“, ihr die Kehle durchschneiden. Weil bald auch Milas voller Name, ihre Adresse und der Name ihrer Schule im Internet kursieren, taucht die junge Frau unter und reicht Klage ein. Sie und ihre Familie erhalten inzwischen Polizeischutz.
Die Geschichte, die Frankreich seit Wochen aufwühlt, beginnt am Nachmittag des 18. Januar. In ihrem Zimmer hat Mila ihr Handy vor sich positioniert, sie will ein Video für all jene aufnehmen, die ihr auf Instagram folgen. Ihre blauen Augen hat sie in auffälligen Violett-Tönen geschminkt, passend zu den kurzen, violett gefärbten Haaren. Das Mädchen mit dem Nasenpiercing spricht schnell und selbstbewusst. Sie erzählt von einem Gespräch, das sie zuletzt in einem offenen OnlineChat mit einer ebenfalls homosexuellen Bekannten geführt hat, davon, dass sich ein junger Mann eingemischt und sie unter anderem als „dreckige Lesbe“beschimpft habe. Das Gespräch kommt auf den Islam.
Für ihren Kontrahenten und seine Gleichgesinnten hat Mila nun eine Antwort parat. „Im Koran steckt nur Hass“, schimpft sie in die Handykamera. „Der Islam ist scheiße. Das ist, was ich denke. Ich sage, was ich denke, verdammt!“Eine Rassistin sei sie deshalb nicht, man könne einer Religion gegenüber nicht rassistisch sein. Und dann wütet Mila noch: „Es wird jetzt wieder Leute geben, die sich aufregen, das ist mir völlig egal...“
Das Video verbreitet sich in Windeseile auf sozialen Netzwerken. Innerhalb kurzer Zeit wird es mehr als eine Million Mal angeschaut, auf
Twitter gehen an einem Tag mehr als 100000 Nachrichten dazu ein. Die Reaktionen fallen heftig aus. Es dauert nicht lange, bis sich zwei Lager bilden unter den Hashtags #JeSuisMila („Ich bin Mila“) und #JeNeSuisPasMila („Ich bin nicht Mila“). Die Schlagworte spielen auf die Solidaritätsbekundung „Je Suis Charlie“an, die nach dem islamistischen Terroranschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015 um die Welt ging. Zwölf Menschen starben damals. Die Frage, ob das Satireblatt den Propheten Mohammed in Karikaturen verunglimpft hatte, trieb nicht nur gläubige Muslime um.
Fünf Jahre später zeigt die Debatte um Mila, wie aufgeheizt das Klima in Frankreich noch immer ist und wie wenige Barrieren für HassBotschaften und brutale Drohungen bestehen. Weil es so viele Fragen gibt, die Milas Video aufgeworfen hat: Wo endet die Meinungsfreiheit? Gibt es ein Recht auf Gotteslästerung? Und wann beleidigt sie die Gefühle und stört die Religionsfreiheit anderer?
Nun muss man wissen: In Frankreich ist Blasphemie – anders als in Deutschland – straffrei. Die Meinungsfreiheit schützt grundsätzlich die Beleidigung von Religionen, verbale Attacken gegen Menschen wegen ihrer Religion können aber die Glaubensfreiheit verletzen.
Doch diese Gesetzeslage hilft Mila nicht. Die 16-Jährige erhält so viele Morddrohungen, dass sie unter Polizeischutz gestellt wird. Und auf Anraten der Polizei geht sie auch nicht mehr zur Schule.
Am 23. Januar leitet die Justiz zwei Ermittlungsverfahren ein. Eines davon betrifft die überwiegend anonymen Beleidigung im Netz, es geht um Belästigung, Androhung von Mord oder eines Verbrechens. Das zweite richtet sich gegen Mila, der Vorwurf lautet „Provokation zum Rassenhass“. Nach drei Tagen stellt Staatsanwalt Jérôme Bourrier die Ermittlungen gegen Mila ein, da ihre Worte „unabhängig von ihrem beleidigenden Ton“von der Meinungsfreiheit gedeckt seien und Mila nicht „zu Hass oder Gewalt gegen Personen wegen ihrer Herkunft“aufgerufen habe – nur dafür hätte sie belangt werden können.
Ihr Anwalt Richard Malka, der unter anderem Charlie Hebdo vertritt, betont, die Entscheidung des Staatsanwaltes habe einen „wichtigen symbolischen Wert“. Dass ein junges Mädchen, das ihr natürliches Recht ausgeübt habe, den Islam zu kritisieren, gezwungen sei, aus Angst vor Rache unterzutauchen, müsse die Gesellschaft aufrütteln.
Milas Instagram-Video ist da längst aus dem Netz verschwunden, sie selbst fürchtet um ihr Leben. In den sozialen Netzwerken tobt der
Hass. Und es werden Stimmen laut, die Mila selbst für ihre Lage verantwortlich machen. Der Generalbeauftragte des französischen Islamrates, Abdallah Zekri, sagt dem Sender Radio Sud in hörbar erregtem Ton, die Schülerin habe den Ärger „gesucht“und müsse nun eben die Konsequenzen ertragen: „Wer Wind sät, erntet Sturm.“Die Staatssekretärin für Gleichstellung, Marlène Schiappa, nennt Zekris Aussagen daraufhin „kriminell“und „unwürdig“eines Mannes, der ein wichtiger Meinungsführer sei.
Der nächste öffentliche Aufschrei folgt, als Justizministerin Nicole Belloubet in einem Interview zwar die Todesdrohungen gegen Mila verurteilt, zugleich aber die Beleidigung einer Religion „als Angriff auf die Glaubensfreiheit“wertet. Später rudert die Politikerin zurück: Sie habe sich ungeschickt ausgedrückt.
Innenminister Christophe Castaner muss klarstellen: „Es gibt in diesem Land nicht das Delikt der Gotteslästerung und das wird es unter dieser Regierung nie geben.“Mehrere Persönlichkeiten appellieren an Präsident Emmanuel Macron, Frankreich müsse „seiner Bestimmung als Heimat der Menschenrechte treu bleiben“, fordern sie.
Genau diese sieht die Philosophin und Islamwissenschaftlerin Razika Adnani in Gefahr. Sie zeigt sich besorgt über die scharfen Reaktionen auf offene Kritik am Islam in einem Land, das in den letzten Jahren immer wieder brutale Terroranschläge im Namen islamistischer Ideologien erlebt hat. „Die Drohungen gegen Mila verkörpern Drohungen gegen die Französische Republik, ihre Gesetze und ihre Prinzipien“, warnt Adnani. Die Jugendlichen, die Hass-Botschaften versenden, ließen sich von einem religiösen Fundamentalismus beeinflussen. Dessen Strategie bestehe darin, die Gesetze zu schwächen, weil er den Islam über die demokratischen Werte der Republik stelle.
Diese These vertritt auch der Islam-Forscher Bernard Rougier, der am Zentrum für Arabische und Orientalische Studien der SorbonneUniversität lehrt und gerade eine Studie über „Die vom Islamismus eroberten Gebiete“Frankreichs veröffentlicht hat. Mehr und mehr soziale Brennpunkte und Einwandererviertel in französischen Vorstädten würden zu regelrechten „Enklaven“in der Hand von salafistischen Netzwerken. Diese wollten eine Ideologie durchsetzen, die einer „ursprünglichen“Sicht des Islam und der Botschaft des Propheten juristischen Wert zuteile, was den Regeln der französischen Gesellschaft widerspreche: „Wir stellen fest, dass junge Menschen, die von diesem Ökosystem genährt werden, daraus ihre Schlüsse ziehen und gewalttätig werden. Es ist eine geringe Minderheit“, erklärt Rougier. Eine Art Parallelwelt baue sich unter den Augen lokaler Politiker auf, die sich dadurch Wählerstimmen erhofften.
Für die Studie hatte Rougier muslimische Studenten in Vorstädte geschickt, die sich vor Ort in Moscheen, Cafés oder Sportvereinen umhörten: Sie berichteten von einem starken sozialen Druck auf gemäßigte Muslime. Weil er diesem standhielt, musste etwa der algerischstämmige Lokalpolitiker Mohammed Chirani seinen Wohnort Sevran im Nordosten von Paris verlassen, nachdem er Drohungen erhalten hatte.
Ähnlich wie Mila, die sich vor wenigen Tagen zu einem öffentlichen Auftritt in der Fernsehsendung Quotidien durchringt. Im weiten Sweatshirt und mit ruhiger Mine sitzt die 16-Jährige im Studio, erklärt dem Moderator, dass sie zwei Dinge bedauere: „Dass ich es in den sozialen Netzwerken gesagt habe, weil ich nicht ermessen habe, was für ein Ausmaß alles bekommen würde. Und dass ich es auf eine so vulgäre Art gesagt habe, ich hätte viel mehr Argumente anführen können.“Außerdem, fügt sie an, wolle sie sich „irgendwie ein bisschen entschuldigen“, falls sie Menschen, die ihren Glauben auf friedliche Weise ausüben, verletzt habe: „Ich wollte einfach nur sagen, was ich über eine Religion denke.“Und sie sei weiterhin nicht bereit, sich dieses Recht verbieten zu lassen.
Wie es für Mila weitergeht, ist ungewiss. Ein Wechsel an ein anderes öffentliches Gymnasium käme sofort heraus: Schließlich ist die 16-Jährige, seit sie auf Instagram über den Islam gewettert hat, in ganz Frankreich bekannt. Aber ob sie irgendwann wieder gefahrlos an ihre alte Schule zurückkann? In ihr früheres Leben? Und wie bald das sein wird? Zuletzt kündigte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer an, dass man eine Lösung gefunden habe, damit Mila wieder Unterricht bekomme. Wie die aussehen wird, das behielt er für sich.
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