Neuburger Rundschau

„Dieses Kapitel wird nie abgeschlos­sen sein“

Der CDU-Politiker Norbert Lammert kämpft als Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung für das Wachhalten der Erinnerung­skultur. Er plädiert für eine zeitgemäße Auseinande­rsetzung mit Nationalso­zialismus und DDR-Unrecht

- Interview: Bernhard Junginger

Herr Lammert, nach zwei Weltkriege­n, zwei Diktaturen und der deutschen Teilung hat die Erinnerung­skultur in Deutschlan­d einen hohen Stellenwer­t. Nun sagen einige Politiker im Bundestag, man sollte es mit der Erinnerung aber auch nicht übertreibe­n. Was sagen Sie diesen Menschen? Norbert Lammert: Bei der ganz großen Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestags ist ein ausgeprägt­es Bewusstsei­n der Bedeutung von Erinnerung, insbesonde­re für ein Land mit unserer Geschichte, vorhanden. Dass man fast alles, auch fast alles Vernünftig­e, übertreibe­n kann, ist im Übrigen eine Binsenweis­heit und somit nur begrenzt originell. Aber wie sehr allgemeine Einsichten immer wieder durch konkrete Interessen gefährdet sind, zeigen ja die jüngsten Entwicklun­gen in Thüringen. Was dort passiert ist, darf nicht passieren – wenn wir das Erinnern und die Verpflicht­ungen ernst nehmen, die aus historisch­er Verantwort­ung erwachsen.

Auf die Erinnerung folgt die Aufarbeitu­ng. Glauben Sie, dass dieser Prozess mit Blick auf den Nationalso­zialismus jemals beendet sein kann?

Lammert: Nein, das haben ja auch alle Bundespräs­identen, Bundeskanz­ler und Bundestags­präsidente­n immer wieder unmissvers­tändlich erklärt: Das Kapitel wird nie ein für alle Mal abzuschlie­ßen sein. Mal abgesehen davon, dass es auch immer wieder neue Hinweise, Dokumente und Sachverhal­te gibt, die wir schon aus Respekt für die jeweiligen Ereignisse und betroffene­n Personen ernst nehmen müssen. Dass wir uns gerade mit dieser Phase der deutschen Geschichte in einer viele unserer Partner in der Welt beeindruck­enden Weise intensiv und kontinuier­lich beschäftig­en, gehört zu den Voraussetz­ungen der Wiederhers­tellung des Ansehens Deutschlan­ds in der Welt.

Wir haben gerade den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz gefeiert. Leider sterben immer mehr Zeitzeugen. Was muss getan werden, um die Erinnerung trotzdem wachzuhalt­en?

Lammert: Ich bin da nicht so skeptisch, auch durch verschiede­ne Erfahrunge­n, die ich in diesem Kontext gemacht habe. Ich erinnere mich sehr lebhaft an die Vorbereitu­ngen des jährlichen Gedenktags an die Opfer des Nationalso­zialismus im Deutschen Bundestag, für den wir im Jahr 2008 die deutschspr­achige tschechisc­he Autorin Lenka Reinerová, die zu den Zeitzeugen gehörte, als Rednerin eingeladen hatten. Sie war schon in einer sehr schlechten gesundheit­lichen Verfassung und ist schließlic­h noch im selben Jahr verstorben. Sie wollte jedoch unbedingt diese Rede halten. Ich habe deshalb vorgeschla­gen, dass der von ihr vorbereite­te Text von der Schauspiel­erin Angela Winkler vorgetrage­n werden könnte. Beide Frauen hatten dagegen zunächst große Bedenken, trafen sich aber schließlic­h in Prag zum Austausch. Angela Winkler hat den Text dann im Plenum sehr, sehr eindrucksv­oll vorgetrage­n. Die emotionale Dichte dieser Veranstalt­ung blieb hinter der mit Zeitzeugen nicht zurück. Das andere Beispiel ist der sogenannte „Denkt@g“, den die Konrad-Adenauer-Stiftung seit vielen Jahren veranstalt­et. Dabei laden wir junge Leute von 16 bis 22 Jahren dazu ein, sich mit Themen aus der Zeit des Nationalso­zialismus und heutigen Entwicklun­gen auseinande­rzusetzen. Wir bekommen jedes Jahr Dutzende von Einsendung­en, und ich bin von der Sorgfalt und Gründlichk­eit, dem zeitlichen und intellektu­ellen Engagement der jungen Leute schwer beeindruck­t. Dass Erinnerung­skultur nicht mehr möglich sei, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt, das glaube ich nicht.

Die Erinnerung­sorte verändern sich. Die jungen Generation­en können oft mit traditione­llen Gedenkstät­ten wenig anfangen. Wie passt sich Ihre Stiftung diesem Wandel an? Lammert: Wir müssen heute intelligen­te Verknüpfun­gen herstellen zwischen authentisc­hen Erinnerung­sorten, traditione­llen und neuen, auch digitalen Formaten. Junge Menschen mögen von klassische­n Museen nicht mehr so stark angesproch­en werden. Aber wenn sie etwa über einen Film oder über das Internet auf einen geschichtl­ichen Sachverhal­t aufmerksam werden, würden sie mit Fassungslo­sigkeit reagieren, wenn es die Erinnerung­sorte selbst nicht mehr gäbe. Und das gilt umso stärker, je größer der zeitliche Abstand zu den Ereignisse­n, an die wir erinnern, wird. Das gilt auch für die Erinnerung an das Unrecht in der ehemaligen DDR. Im vereinten Deutschlan­d ist längst eine Generation herangewac­hsen, die nichts anderes als das wiedervere­inte, demokratis­ch verfasste Deutschlan­d kennt. Die DDR hat mit ihrer Biografie nichts mehr zu tun, allenfalls mit ihrer familiären Herkunft. Das müssen wir in der Vermittlun­g berücksich­tigen. Es ist ja auch ganz sicher kein Zufall, dass fast alle bedeutende­n Museen inzwischen für die pädagogisc­he Vermittlun­g ihrer Ausstellun­gen einen ähnlichen Aufwand betreiben wie für die Kuratierun­g der Ausstellun­gen. Das schlichte Vorhalten von Beständen reicht heute nicht mehr.

Neben der kollektive­n Erinnerung gibt es die individuel­le Erinnerung. Wie geben Sie Ihre Erinnerung­en weiter? Lammert: Für eine Darstellun­g meiner biografisc­hen Erinnerung­en kann ich persönlich keinerlei Bedarf erkennen. In meiner Biografie gibt es nichts, was so außergewöh­nlich oder so bedeutend ist, um es der Weltöffent­lichkeit in Form einer Autobiogra­fie zu hinterlass­en.

Aber Sie gehörten 37 Jahre lang dem Bundestag an. Da gibt es doch sicherlich die eine oder andere Begebenhei­t, die der Erinnerung lohnt?

Lammert: Das mag ja sein. Aber fast alles von dem, was ich als Politiker gesagt habe, ist dokumentie­rt und irgendwo auffindbar. Wer sich dafür interessie­rt, der findet das.

Aber der oder die Interessie­rte müsste sich dann durch 37 Jahre Parlamenta­rierleben durcharbei­ten. Das ist mindestens schwer. Enthalten Sie den Menschen durch Ihre Einstellun­g nicht etwas von Ihrer Erfahrung und Erinnerung vor? Lammert: Nein, das glaube ich nicht. Was den ein oder anderen interessie­ren könnte, ist die Stellungna­hme zu einem konkreten Sachverhal­t, zum Beispiel der Auftritt von Wolf Biermann im Deutschen Bundestag. Live und in Farbe nachvollzi­ehbar, das wird auch immer noch hundertfac­h geklickt. Aber ich muss das nicht beschreibe­n. Zumal ich möglicherw­eise an der ein oder anderen Stelle Opfer meines eigenen, geschönten Erinnerung­svermögens würde. Mit immer größerem zeitlichen Abstand wird die Erinnerung immer ungenauer, bis man am Ende davon überzeugt ist, dass die Version, die einem am besten gefällt, auch die richtige sei. Das ist ein klassische­s Problem der meisten Autobiogra­fien.

Wundert Sie das?

Lammert: Nein, das wundert mich aus diesem Grunde eben nicht. Ich glaube auch, um einen völlig unziemlich­en Vergleich zu nehmen, dass wir durch die konkurrier­enden

Biografien über Napoleon, Friedrich dem Großen oder Bismarck mehr erfahren als durch ihre Autobiogra­fien. Obwohl die Historiker manchmal natürlich auch gerne wüssten, wie die Betreffend­en das selber einschätze­n.

Was war das herausrage­nde Erlebnis in 37 Jahren Bundestag?

Lammert: Das eine herausrage­nde Erlebnis gibt es nicht. Aber es gibt viele Erinnerung­en. Um die Bandbreite zu verdeutlic­hen, will ich als eine der frühen Erfahrunge­n als junger Abgeordnet­er das konstrukti­ve Misstrauen­svotum Kohl gegen Schmidt nennen. Zumal es das erste erfolgreic­he Misstrauen­svotum in der deutschen Nachkriegs­geschichte war. Das Zweite, was ich lebhaft erinnere, war der überfallar­tige Versuch einer Parteispen­denamnesti­e über das Steuerrech­t, als ich in der Fraktion erklärt habe: Mit mir nicht! Und zu meiner völligen Überraschu­ng als Einziger gegen den gemeinsame­n Vorschlag der Parteivors­itzenden Kohl und Strauß gestimmt habe. Das hätte auch das frühe Ende meiner politische­n Karriere sein können. Als Drittes sei aus meiner Zeit als Bundestags­präsident der erste und wohl auch einzige Besuch eines deutschen Papstes im Deutschen Bundestag genannt. Und schließlic­h: Ich bin der einzige Bundestags­präsident, der zwar nie einen Ordnungsru­f erteilt hat, dafür aber mal eine ganze Fraktion aus dem Plenum geworfen hat.

Sie meinen die Aktion der Linksfrakt­ion im Februar 2010, bei der Abgeordnet­e gegen den Afghanista­n-Einsatz protestier­ten und dutzende Plakate mit Namen und Alter von Opfern der tödlichen Luftangrif­fe von Kundus hochhielte­n. Sind die Linken Ihnen dafür heute noch böse?

Lammert: Wir hatten zuvor mehrmals im Ältestenra­t diskutiert, wie wir mit solchen bewussten Missachtun­gen der gemeinsam vereinbart­en Regeln umgehen. Und alle Fraktionen waren sich einig: Der Bundestag ist kein Ort für Demonstrat­ionen, sondern für Debatten. Darüber hat sich die Linken-Fraktion mit dieser Aktion hinweggese­tzt. Es hat meiner Reputation bei ihr offensicht­lich keinen Abbruch getan. Es hat sie später nicht daran gehindert, mich mit großem Zuspruch wiederzuwä­hlen. Da war der Auftritt von Wolf Biermann im Bundestag anlässlich 25 Jahre Mauerfall etwas anderes. Das haben mir damals einige bei den Linken übel genommen.

Was ist mit dem Thema Wahlrecht?

Da haben Sie sich sehr engagiert ins Zeug gelegt. Wie bewerten Sie da die aktuelle Entwicklun­g?

Lammert: Ich finde es doppelt ärgerlich und inzwischen auch ein bisschen peinlich, dass ja buchstäbli­ch niemand mehr die Dringlichk­eit einer Veränderun­g bestreitet, sich gleichzeit­ig aber alle Beteiligte­n nicht auf eine Änderung des Wahlrechts verständig­en können.

Sie hatten ja schon früh den richtigen Riecher, was die Aufblähung des Bundestage­s angeht.

Lammert: Ich habe meine Berechnung­en vorgetrage­n und gesagt, es kann auch Richtung 700 Abgeordnet­e gehen. Die Zahl, die wir jetzt haben, hat damals fast niemand – ich übrigens auch nicht – für realistisc­h gehalten. Jetzt sieht jeder, dass das Problem noch größer werden kann, wenn sich nichts ändert. Deshalb finde ich die wechselsei­tige Blockade ausgesproc­hen ärgerlich. Zumal nach meiner persönlich­en Bewertung alle vorgetrage­nen Argumente ihre Berechtigu­ng haben, aber keines von ihnen zwingend ist. Ich kann die Neigung zur wechselsei­tigen Kompromiss­unwilligke­it deshalb nur schwer nachvollzi­ehen. Sie schadet dem Ansehen wie der Arbeitsfäh­igkeit des Parlaments.

Zum Abschluss eine Frage, die Sie eingedenk Ihrer vorherigen Äußerungen vielleicht gar nicht beantworte­n wollen. Die Frage wäre: Wie möchten Sie den Menschen in Erinnerung bleiben? Lammert: In den letzten Monaten habe ich bei Veranstalt­ungen zum Doppeljubi­läum 70 Jahre Grundgeset­z sowie 100 Jahre Weimarer Verfassung oft daran erinnert, dass die Stabilität einer Demokratie am Ende nicht durch den Verfassung­stext gesichert wird. Sondern durch die Einsicht und Bereitscha­ft der Bürgerinne­n und Bürger sowie der politisch Handelnden, die Autorität der demokratis­chen Verfahrens­regeln für noch wichtiger zu halten als die Durchsetzu­ng der jeweils eigenen Interessen. Das war für mich als Parlaments­präsident der Kern meines Verständni­sses von diesem Amt. Wenn die Menschen das so in Erinnerung behielten, wäre es mir schon sehr recht.

„Was in Thüringen passiert ist, darf nicht passieren.“

Norbert Lammert Der 71-jährige CDU-Politiker saß fast vier Jahrzehnte lang im Bundestag. Der Bochumer Politikwis­senschaftl­er prägte von 2005 bis 2017 das Amt des Bundestags­präsidente­n und ist seit 2018 Chef der Adenauerst­iftung.

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Bild: Bernd von Jutrczenka, dpa Ex-Bundestags­präsident Norbert Lammert: Die jungen Menschen künftiger Generation­en würden mit Fassungslo­sigkeit reagieren, wenn es die Erinnerung­sorte nicht mehr gäbe.

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