Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (28)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg

Das Vieh kehrt heim, das Feld ist kahl.

Ja, es ist noch Sommer, aber man wartet schon auf den Schnee.

Ich möchte ihr helfen, damit sie nicht friert.

Ich möchte ihr einen Mantel kaufen, Schuhe und Wäsche.

Sie braucht es nicht vor mir auszuziehe­n.

Ich möchte nur wissen, ob der Schnee kommen kann.

Noch ist alles grün.

Aber sie muß nicht bei mir sein. Wenns ihr nur gut geht.

Sechsunddr­eißigstes Kapitel Besuch

Heute vormittag bekam ich Besuch. Ich habe ihn nicht sogleich wiedererka­nnt, es war der Pfarrer, mit dem ich mich mal über die Ideale der Menschheit unterhalte­n hatte.

Er trat ein und trug Zivil, dunkelgrau­e Hosen und einen blauen Rock.

Ich stutzte. Ist er weggelaufe­n?

„Sie wundern sich“, lächelt er, „daß ich Zivil trage, aber das trage ich meistens, denn ich stehe zu einer besonderen Verfügung – kurz und gut: meine Strafzeit ist vorbei, doch reden wir mal von Ihnen!

Ich habe Ihre tapfere Aussage in den Zeitungen gelesen und wäre schon früher erschienen, aber ich mußte mir erst Ihre Adresse beschaffen. Übrigens: Sie haben sich stark verändert, ich weiß nicht wieso, aber irgend etwas ist anders geworden an Ihnen. Richtig, Sie sehen viel heiterer aus!“„Heiterer?“

„Ja. Sie dürfen auch froh sein, daß Sie das mit dem Kästchen gesagt haben, auch wenn Sie jetzt die halbe Welt verleumdet. Ich habe oft an Sie gedacht, obwohl oder weil Sie mir damals sagten, Sie glaubten nicht an Gott.

Inzwischen werden Sie ja wohl angefangen haben, etwas anders über Gott zu denken.“

Was will er? denke ich und betrachte ihn mißtrauisc­h.

„Ich hätte Ihnen etwas Wichtiges mitzuteile­n, aber zunächst beantworte­n Sie mir, bitte, zwei Fragen. Also erstens: Sie sind sich wohl im klaren darüber, daß Sie, selbst wenn die Staatsanwa­ltschaft das Verfahren gegen Sie niederschl­agen sollte, nie wieder an irgendeine­r Schule dieses Landes unterricht­en werden?“

„Ja, darüber war ich mir schon im klaren, bevor ich die Aussage machte.“

„Das freut mich! Und nun zweitens: wovon wollen Sie jetzt leben? Ich nehme an, daß Sie keine Sägewerksa­ktien besitzen, da Sie sich ja damals so heftig für die Heimarbeit­er einsetzten, für die Kinder in den Fenstern – erinnern Sie sich?“

Ach, die Kinder in den Fenstern! Die hatte ich ja ganz vergessen!

Und das Sägewerk, das nicht mehr sägt.

Wie weit liegt das alles zurück! Und ich sage: „Ich habe nichts. Und ich muß auch meine Eltern unterstütz­en.“

Er sieht mich groß an und sagt dann nach einer kleinen Pause: „Ich hätte eine Stellung für Sie.“„Was?! Eine Stellung?!“

„Ja, aber in einem anderen Land.“

„Wo?“

„In Afrika.“

„Bei den Negern?“

Es fällt mir ein, daß ich „der Neger“heiße, und ich muß lachen. Er bleibt ernst.

„Warum finden Sie das so komisch? Neger sind auch nur Menschen!“

Wem erzählen Sie das? möchte ich ihn fragen, aber ich sage nichts dergleiche­n, sondern höre es mir an, was er mir vorschlägt: ich könnte Lehrer werden, und zwar in einer Missionssc­hule.

„Ich soll in einen Orden eintreten?“

„Das ist nicht notwendig.“

Ich überlege.

Heute glaube ich an Gott, aber ich glaube nicht daran, daß die Weißen die Neger beglücken, denn sie bringen ihnen Gott als schmutzige­s Geschäft.

Und ich sage es ihm.

Er bleibt ganz ruhig.

„Das hängt lediglich von Ihnen ab, ob Sie Ihre Sendung mißbrauche­n, um schmutzige Geschäfte machen zu können.“

Ich horche auf. Sendung? „Jeder Mensch hat eine Sendung“, sagt er.

Richtig!

Ich muß einen Fisch fangen. Und ich sage dem Pfarrer, ich werde nach Afrika fahren, aber nur dann, wenn ich das Mädchen befreit haben werde.

Er hört mir aufmerksam zu.

Dann sagt er:

„Wenn Sie glauben zu wissen, daß der fremde Junge es tat, dann müssen Sie es seiner Mutter sagen. Die Mutter muß alles hören. Gehen Sie gleich zu ihr hin.“

Siebenundd­reißigstes Kapitel Die Endstation

Ich fahre zur Mutter des T. Der Pedell im Gymnasium gab mir die Adresse. Er verhielt sich sehr reserviert, de

nn ich hätte ja das Haus nicht betreten dürfen.

Ich werde es nie mehr betreten, ich fahre nach Afrika. Jetzt sitze ich in der Straßenbah­n.

Ich muß bis zur Endstation. Die schönen Häuser hören allmählich auf und dann kommen die häßlichen. Wir fahren durch arme Straßen und erreichen das vornehme Villenvier­tel.

„Endstation!“ruft der Schaffner. „Alles aussteigen!“Ich bin der einzige Fahrgast.

Die Luft ist hier bedeutend besser als dort, wo ich wohne.

Wo ist Nummer dreiundzwa­nzig?

Die Gärten sind gepflegt. Hier gibts keine Gartenzwer­ge. Kein ruhendes Reh und keinen Pilz. Endlich hab ich dreiundzwa­nzig. Das Tor ist hoch, und das Haus ist nicht zu sehen, denn der Park ist groß. Ich läute und warte.

Der Pförtner erscheint, ein alter Mann. Er öffnet das Gitter nicht. „Sie wünschen?“

„Ich möchte Frau T sprechen.“„In welcher Angelegenh­eit?“„Ich bin der Lehrer ihres Sohnes.“

Er öffnet das Gitter.

Wir gehen durch den Park. Hinter einer schwarzen Tanne erblicke ich das Haus. Fast ein Palast. Ein Diener erwartet uns bereits, und der Pförtner übergibt mich dem Diener: „Der Herr möchte die gnädige Frau sprechen, er ist der Lehrer des jungen Herrn.“Der Diener verbeugt sich leicht. „Das dürfte leider seine Schwierigk­eiten haben“, meint er höflich, „denn gnädige Frau haben soeben Besuch.“

„Ich muß sie aber dringend sprechen in einer sehr wichtigen Angelegenh­eit!“

„Könnten Sie sich nicht für morgen anmelden?“

„Nein. Es dreht sich um ihren Sohn.“

Er lächelt und macht eine winzige wegwerfend­e Geste.

„Auch für ihren Sohn haben gnädige Frau häufig keine Zeit. Auch der junge Herr muß sich meist anmelden lassen.“

»29. Fortsetzun­g folgt

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