Bürokratisieren wir uns zu Tode?
Lange Zeit wurden Initiativen zum Abbau überbordender Regelungen mit Spott begleitet. Der Beauftragte der Staatsregierung, Walter Nussel, will für eine Wende sorgen. Er fordert: Schluss mit übertriebenen Vorschriften
München/Nürnberg Kaum ein Witz hält sich im Landtag so zäh wie der Witz über den Bürokratieabbau, der „nun endlich“, „jetzt aber energisch“und „dieses Mal wirklich ernsthaft“angepackt werden müsse. Als der frühere Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) Anfang dieses Jahrtausends einen neuen Anlauf unternahm, spotteten die Lästermäuler unter den Abgeordneten: „Da brauchen wir aber ein Bürokratieabbauministerium oder zumindest ein Landesamt für Bürokratieabbau mit Außenstellen in allen Regierungsbezirken ...“
Recht viel besser geworden ist es seit Stoibers Vorstoß nicht. Zwar wurde eine Reihe überflüssiger Gesetze abgeschafft, darunter auch das uralte „Gesetz über den Hufbeschlag“,
von dessen Existenz vermutlich nicht einmal Pferdebesitzer etwas wussten. Die Klagen von Unternehmen, Vereinen oder ganz normalen Bürgern über unsinnige oder belastende Vorschriften aber rissen nicht ab.
Die Gründe sind bekannt: Erstens kommen immer wieder neue Vorschriften hinzu. Zweitens wird es in vielen Bereichen immer teurer und aufwendiger, die Vorschriften einzuhalten. Und drittens blieben die wirklich revolutionären Ideen, wie zum Beispiel die „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“, reine Utopie.
Mehr als ein Jahrzehnt nach Stoibers Initiative wurde erneut ein Ministerpräsident aktiv. Horst Seehofer (CSU) ernannte einen Beauftragten der Staatsregierung für Bürokratieabbau. Seine Wahl fiel auf den mittelfränkischen CSU-Abgeordneten Walter Nussel. Und der packte die Sache tatsächlich unkonventionell und unbürokratisch an, nämlich dort, wo der Ärger am größten ist: Bei den Unternehmen, Vereinen und ganz normalen Bürgern.
Schon früh hat Nussel ein Pro
identifiziert, das sich ganz gut am Beispiel des „explosionsfesten Fettabscheiders“illustrieren lässt. Sehr verkürzt dargestellt ging es im konkreten Fall darum, dass irgendwo ein Fettabscheider erfunden worden war, der sicherer, aber eben auch teurer war als ältere Modelle. Prompt sollte daraufhin die entsprechende Vorschrift (DIN 4040-100) verschärft werden, und zwar nach dem „Prinzip der Null-Toleranz“. Das bedeutet in diesem Fall, dass Sicherheitsvorschriften quasi automatisch an den neuesten Stand der
Technik gekoppelt werden. Die Mehrkosten dafür tragen die Anwender, also zum Beispiel Gastronomen oder Betreiber von Großküchen. Und wenn sie sich nicht an die neuen Vorschriften halten, tragen sie auch das Risiko, wenn der alte Fettabscheider explodiert.
Die Frage freilich, ob schon jemals ein Fettabscheider von selbst, also ohne weitere Einwirkung von außen, explodiert ist, stellte in dem Normierungsverfahren niemand. Nussel aber stellte sie. Und siehe da: Weder in Bayern noch in Deutschblem land oder im benachbarten Ausland war auch nur ein einziger Fall aktenkundig. In einem mühseligen Prozess konnte er die Verschärfung der Vorschrift abwenden.
Für die oft grotesken Folgen des „Prinzips der Null-Toleranz“gibt es unzählige Beispiele. Die meisten betreffen den Brandschutz. Im Augsburger Stadttheater durfte im Sommer 2016 wegen schärferer Vorschriften quasi von einem Tag auf den anderen nicht mehr gespielt werden, obwohl es dort in den Jahrzehnten zuvor nie gebrannt hatte.
Der Kreuzgang im Landtag wäre für Ausstellungen und Veranstaltungen nicht länger zugelassen worden, hätte man nicht für sündteures Geld das Dach nach oben durchbrochen, um in die Kuppel für den Brandfall einen Rauch-Wärme-Abzug einzubauen. Niemand kann sich erinnern, dass es dort je gebrannt hätte. Ein Bürgermeister, der eine Schule renovieren will, darf sich nicht mit Brandschutztüren zweiter Wahl begnügen. Der Stand der Technik schreibt ihm die neuesten Modelle vor – zum Preis eines Neuwagens, pro Stück. Und jeder Vereinsvorsitzende, der ein Vereinsfest so aufziehen will, wie vor zehn oder 20 Jahren, steht fast schon mit einem Bein im Gefängnis. Nicht wenige kapitulieren vor den Vorschriften.
In vielen kleinen Schritten konnte Nussel helfen. Er hat eine Übergangsfrist für die Umrüstung von Milchtankstellen und Erleichterungen für Ehrenamtliche beim Maibaumtransport oder bei nicht-gewerblichen Altpapiersammlungen durchgesetzt. Er hat erreicht, dass nicht für jede neue Bestuhlung in einem Veranstaltungsraum ein neuer Bestuhlungsplan (Kosten: bis zu 700 Euro, Bearbeitungsdauer: bis zu drei Wochen) notwendig ist. Er hat für eine bessere Information von Ehrenamtlichen durch verständliche Merkblätter gesorgt. Und auf seinen Vorschlag hin hat die Staatsregierung 2018 das Instrument des „Praxis-Checks“etabliert, um Gesetze, Richtlinien und Vorschriften vor Ort mit Betroffenen auf ihre Praxistauglichkeit überprüfen und, wenn nötig, korrigieren zu können.
Um Verbesserungen im großen Stil zu erreichen, genügen ihm diese kleinen Schritte nicht. Nussel fordert eine „Abkehr von der Null-Toleranz-Grenze“. Nicht das Höchstmaß, sondern ein „hinreichendes Maß an Sicherheit“sollten künftig der Maßstab sein. Das spare Kosten für alle. Nussel sagt: „Bürokratieabbau ist nicht nur ein kostenloses Konjunkturprogramm für die Wirtschaft, im Bürokratieabbau sehe ich zudem ein wichtiges Stabilitätsprogramm für unsere Demokratie.“
Der Fettabscheider: Explodiert er oder nicht?