„Sexkontakte werden immer unverbindlicher“
Was macht das Internet mit unseren Liebesbeziehungen? Wie können Partner wieder zusammenfinden? Gute Fragen zum Valentinstag. Die Münchner Paartherapeutin Heike Melzer beobachtet Beunruhigendes
Am heutigen Freitag ist Valentinstag. Frau Dr. Melzer, Sie sind Neurologin, Sexual- und Paartherapeutin in München. Sollten Paare sich heute etwas schenken?
Dr. Heike Melzer: Das ist ein Tag, an dem die Messlatte sehr weit oben liegt und das kann Probleme verursachen, weil der Erwartungsdruck hoch ist. Aus paartherapeutischer Sicht kann ich nur sagen, wenn jemand an den anderen 364 Tagen, die ebenso wichtig sind wie der Valentinstag, nichts für seine Beziehung tut und an diesem einen Tag mit einem großen Blumenstrauß hereinmarschiert, dann bringt das nichts.
Wie viele kleine Aufmerksamkeiten braucht die Liebe generell?
Melzer: Wir sind Gewohnheitsmenschen. Und wir neigen dazu, alles, was immer da ist, nicht mehr zu schätzen. Beispielsweise freuen wir uns in einer Partnerschaft am Anfang riesig, wenn der andere kocht oder sich um den Garten kümmert. Doch das wird schnell zur Gewohnheit, zu einer Selbstverständlichkeit. Partner haben in längeren Beziehungen oft den Eindruck, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden, sondern wie ein Gegenstand in der Wohnung vorhanden sind, der nur noch ab und zu abgestaubt werden muss. Daher ist es superwichtig, Aufmerksamkeit und vor allem auch Dankbarkeit für das Alltägliche zu bewahren und den Partner wie in der ersten Zeit des Verliebtseins größer zu machen.
Wie klappt das konkret?
Melzer: Indem man beispielsweise dem Partner kleine Botschaften zukommen lässt, und zwar nicht in der Form von klammernden Whatsapps, in denen fünfmal am Tag nachgefragt wird, ob einen der andere noch liebt. Wichtig ist, mitzudenken und Dinge zu machen oder etwas zu schreiben, was dem Partner wirklich hilft und was er vielleicht auch nicht erwartet hätte. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch, zusammen Neues zu machen oder nach längeren Jahren einmal Bilanz zu ziehen: Was hat uns denn früher Spaß gemacht? Was hat sich in der Zeit in unserer Sexualität verändert? Wann haben wir das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht?
Gespräche, die sicher viele scheuen. Melzer: Och, immer, wenn es um Bindung geht, sind Frauen stark, wenn es um Sex geht, sind die Männer dabei. Diese Gespräche klappen, wenn sie von Anfang an nicht als
Klage rüberkommen. Fragen wie: „Warum bist du so lustlos? Warum sprichst du nicht mehr mit mir?“rücken die Kritik am anderen in den Vordergrund. Das ist nicht gut. Viel wichtiger ist: Wo wollen wir hin? Sexualität ist da ein Paradebeispiel.
Erleben Sie das oft in Ihrer Praxis? Melzer: Ja, klar. Beim Sex läuft am Anfang alles bestens. Man macht es oft, spricht viel darüber und dann wird es zu einer sexuellen Routine. Es gibt ungelebte Anteile, über die oft gar nicht gesprochen wird. Und irgendwann lebt man sozusagen im ehelichen Zölibat: Man spricht nicht mehr darüber und macht es auch nicht mehr miteinander. Aber mit anderen darf man es auch nicht machen. In einer Beziehung startet man sexuell also am Gipfel und arbeitet sich ins Tal hinab. Deswegen muss man immer wieder etwas tun, um Halbhöhenlage zu gewinnen.
Und wie funktioniert das?
Melzer: Ich sage zu meinen Paaren immer: Sei du der Initiator der Veränderung, dann sitzt du am längeren Hebel. Wer etwas verändert haben will, sollte nicht über Probleme klagen, sondern mit mindestens drei Lösungsvorschlägen den Partner überraschen. Ein guter Weg ist hier, sich auch mal hin und wieder Wunschzettel zu schreiben. Interessant dabei ist oft, dass bei Paaren in Krisen dort Unterlassungswünsche draufstehen, also was aufhören soll.
Und dann?
Melzer: Ich sage dann immer: Kein Kind schreibt dem Weihnachtsmann,
Symbolfoto: Alexander Körner, dpa
Wie funktioniert Veränderung noch? Melzer: Das Jahr hat im Schnitt 52 Wochen: In den geraden Wochen muss der eine einen Veränderungsimpuls vorschlagen, in den ungeraden der andere. Oder: Wir schreiben uns jetzt einmal nur E-Mails, die nicht alltagsbezogen sind. Oder: Einer muss eine erotische Geschichte im Mail starten, der andere setzt sie fort und im Pingpong wird sie gemeinsam weitergeschrieben. Man kann aber auch einfach nur mal am Abend ein Massageöl mitbringen: Der andere muss sich nur hinlegen und darf das Streicheln genießen. Aber es sollte keine Eintagsfliege bleiben. Um neue Gewohnheiten zu etablieren, muss man dranbleiben, sonst erlischt die kleine Flamme schnell wieder.
Beziehungen können heute viel leichter über Online-Portale geknüpft werden als früher. Wie verändert die Digitalisierung unsere Paarbeziehungen? Melzer: Die Digitalisierung verändert unsere Paar- und Sexualbeziehungen ganz extrem. Das beobachte ich auch in meiner Praxis. Sexkontakte werden immer unverbindlicher. Es gibt so unglaublich viele
Portale, auf denen sie sich mit Leuten zu den unterschiedlichsten sexuellen Zwecken treffen können und dies ganz im Verborgenen. In meine Praxis kommen Menschen, oft sind es Männer, die ihre Sexualität mit sich selbst und online so stark ausleben, dass sie mit einem Menschen im echten Leben gar keinen Sex mehr haben können. Diese Zahl steigt rasant. Und man sieht das den Leuten nicht an. Die sind im Alltag oft redegewandt, charmant, hochgebildet, musikalisch, philosophisch interessiert – das kriegen Sie nicht mit.
Die Reize, die das Internet bietet, sind für viele also einfach zu stark? Melzer: Ich vergleiche das immer mit unserer Ernährung: Wir sind gut informiert, wir wissen, was gute Fette sind und dass Zucker nur in Maßen gesund ist und dass Fertigprodukte oft viele ungesunde Inhaltsstoffe wie Geschmacksverstärker, Aromen, Farbstoffe und andere suspekte Inhaltsstoffe enthalten. Die Nahrungsmittelindustrie verführt uns täglich mit ihren Produkten. Wir sind umgeben von Superreizen, die in Maßen ein Genuss sein können, im Übermaß aber in Abhängigkeit und Krankheit führen. So ist es auch mit sexuellen Reizen im Internet. Nur ist es so, dass Sie Menschen, die Essstörungen haben, ihre Probleme oft ansehen. Sexuelle Probleme verlaufen im Verborgenen.
Man denkt, dass auch Paare zu Ihnen kommen, die schon lange zusammen sind, bei denen aber irgendwie das Knistern verloren gegangen ist ... Melzer: Diese Paare kommen ja auch. Denn es ist nun einmal so, dass gerade die Sexualität einen Gewöhnungseffekt hat. Der Partner wird älter, langweiliger, dann kommen Probleme im Alltag dazu. Nicht selten kommen Paare, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann muss man schauen, ob man sich auf den Serpentinen des Lebens schon ganz verloren hat oder ob man es schafft, sich noch einmal neu zu erfinden. Das ist keine leichte Aufgabe. Da müssen oft die Rollen und die Verantwortung noch einmal ganz neu aufgeteilt werden. Es ist aber auch eine große Chance für beide.
Heike Melzer, 54, ist Neurologin, Paar- und Sexualtherapeutin und Buchautorin (Scharfstellung, die neue sexuelle Revolution).