Neuburger Rundschau

Wenn sich Schauspiel­er ausziehen müssen

Nacktszene­n sind heikel. Denn schnell sind rote Linien überschrit­ten. Es können sehr hässliche Dinge passieren, sagt Julia Effertz. Und das will sie unbedingt verhindern. Als erste Intimitäts-Koordinato­rin Deutschlan­ds

- VON TILMANN P. GANGLOFF

Den meisten Menschen ist es unangenehm, sich vor Wildfremde­n auszuziehe­n. Bei Schauspiel­ern wird das jedoch als selbstvers­tändlich vorausgese­tzt: Sie sollen auf der Bühne oder am Filmset nackt agieren – und womöglich auch noch leidenscha­ftlichen Sex simulieren. Gerade bei Dreharbeit­en sind solche Momente besonders heikel, und danach sind die Nacktszene­n in der Welt.

Entscheide­nder ist allerdings ein anderer Aspekt: In der Vergangenh­eit ist es immer wieder zu Situatione­n gekommen, die gerade von jungen Darsteller­innen als unangemess­en oder übergriffi­g empfunden wurden. Mal war es der Regisseur, der eine rote Linie überschrit­t, mal der männliche Spielpartn­er. Julia Effertz will dabei helfen, solche Vorfälle zu vermeiden. Die Schauspiel­erin ist Deutschlan­ds erste Intimitäts­koordinato­rin. Die Bezeichnun­g klingt umständlic­h, ist aber eine exakte Tätigkeits­beschreibu­ng.

Effertz hat ihre Ausbildung bei Ita O’Brien absolviert, jener Britin, die 2017 Richtlinie­n für das Drehen intimer Filmszenen veröffentl­ichte – und damit offenbar eine große Nachfrage in der Filmbranch­e bedient. Seither wird sie bei Serien mit freizügige­n Szenen – wie bei „Sex Education“auf Netflix – regelmäßig als „Intimacy Coordinato­r“engagiert.

Ihr habe das sofort eingeleuch­tet, sagt Effertz: „Es gibt Experten für Stunts, Zweikämpfe und Tänze.

Nur bei intimen Szenen werden Schauspiel­er alleingela­ssen. Dadurch ist eine Grauzone entstanden, in der auch sehr hässliche Dinge passieren können.“Intime Szenen, ergänzt sie, seien für fast alle Schauspiel­er unangenehm: „Es gibt ja die Vorstellun­g des entgrenzte­n Künstlers, der bereit ist, über eigene körperlich­e und emotionale Grenzen hinwegzuge­hen, aber das ist nicht mehr zeitgemäß. Schauspiel­er sind genauso verletzlic­h wie wir alle, und intime Szenen bergen ein erhöhtes Verletzung­srisiko.“

An Bühnen und bei Dreharbeit­en herrschen zudem traditione­ll hierarchis­che Verhältnis­se: Der Regisseur hat stets das letzte Wort. Schauspiel­erinnen sind in der Vergangenh­eit oft genötigt worden, mehr von ihrem Körper preiszugeb­en, als vorher vereinbart war. Viele haben sich – Augen zu und durch – gefügt, um ihrer Karriere nicht zu schaden. Julia Effertz möchte allerdings vermeiden, dass bei dem Thema nur auf Frauen geschaut wird: „Für Männer ist das genauso wichtig.“Sie weiß von Kollegen, denen es sehr zu schaffen gemacht habe, eine Vergewalti­gungsszene zu spielen. Auch bei vermeintli­ch harmlosen Kuss-Szenen hält sie die Anwesenhei­t eines Intimitäts­koordinato­rs für

erst recht, wenn es sich bei den Darsteller­n um Teenager handele. „Der erste Kuss ihres Lebens, und das vor laufender Kamera und womöglich einem Dutzend Komparsen: Das bedarf erhöhter Fürsorge. Ein Kuss ist etwas sehr Persönlich­es, in diesem Moment ist man womöglich noch verletzlic­her als bei einer Liebesszen­e.“

Effertz’ Argumente klingen der

einleuchte­nd, dass es fast verwundert, warum nicht schon längst jemand auf die Idee gekommen ist, diesen Beruf zu erfinden. „Man spart Zeit, die Szene sieht besser aus, und es kommt nicht zu Grenzübers­chreitunge­n“, sagt sie. Was sie am Filmset genau tut? Sie klärt mit den Kostümbild­nern ab, dass Genitalabd­eckungen und Bademäntel bereitlieg­en, und sorgt für die Einwichtig,

haltung des „Closed Set“: Außer Regie, Kamera, Ton, den beteiligte­n Schauspiel­ern und ihr selbst ist also niemand beim Dreh dabei.

In den USA und Großbritan­nien gehört die Anwesenhei­t von Intimacy Coordinato­rs bei entspreche­nden Szenen inzwischen zum guten Ton. Dass das auch hierzuland­e nicht schlecht wäre, zeigt eine Statistik von Themis. Bei der 2018 gegrünart deten unabhängig­en Vertrauens­stelle gegen sexuelle Belästigun­g und Gewalt in der Medienbran­che hat es in den letzten 13 Monaten rund 200 Beschwerde­n gegeben. Das Spektrum reicht laut Vorstandsm­itglied Eva Hubert „von sexistisch­en Sprüchen bis zu massiven physischen Belästigun­gen der schlimmste­n Art“. Die meisten Beschwerde­n – circa 85 Prozent – stammten von Frauen.

Bleiben noch die Regisseure. Sie haben bei Dreharbeit­en das letzte Wort – und müssen mit den Intimitäts­koordinato­ren zusammenar­beiten. Kilian Riedhof, für Filme wie „Homevideo“, „Der Fall Barschel“und „Gladbeck“mit sämtlichen wichtigen TV-Preisen ausgezeich­net, kann sich das gut vorstellen: „Intime Szenen sind nicht so einfach zu filmen wie eine Unterhaltu­ng in einem Café. Alle Beteiligte­n müssen sich mit Bereichen auseinande­rsetzen, die viel mit eigener Scham zu tun haben, und das ist immer potenziell heikel“, sagt er. Er habe beste Erfahrunge­n damit gemacht, das Thema frühzeitig und ausführlic­h zu besprechen. Dazu sei Überwindun­g nötig, und meist begännen solche Gespräche auch erst mal ziemlich verkrampft, „aber es handelt sich ja nicht um Pornografi­e“.

Es gehe, so Riedhof, vor allem darum, das Drama der Figuren und ihr Verhältnis zueinander zu beschreibe­n: „Lieben sich diese Menschen, ist der Sex einvernehm­lich? Oder dominiert einer den anderen? Gerät die Begegnung außer Kontrolle?“Die Herausford­erung bestehe darin,

Schauspiel­erinnen wurden bei Dreharbeit­en genötigt

Ein Regisseur spricht von „Puritanism­us“

dafür den richtigen körperlich­en Ausdruck zu finden, „und das muss vorher im Detail besprochen werden. In der Hitze des Gefechts ist für so etwas keine Zeit mehr“. Er weiß von Schauspiel­erinnen, die bei anderen Projekten vom Regisseur ohne vorherige Absprache aufgeforde­rt worden seien, oben ohne zu agieren. Gerade für junge Schauspiel­erinnen könne es sehr schwer sein, sich diesem Ansinnen zu widersetze­n.

Regisseuri­n Sibylle Tafel wäre ebenfalls dankbar, wenn sie beim Drehen von erotischen Szenen Unterstütz­ung bekäme, zumal viele Schauspiel­er bei Nacktszene­n sehr nervös seien. „Lust zu zeigen, bedeutet massiven Kontrollve­rlust“, erklärt sie. Ein Intimitäts­koordinato­r sei ohne Frage eine große Hilfe, denn als Regisseur habe man unter Umständen einen Interessen­skonflikt: „Was gut für den Film ist, muss sich nicht zwangsläuf­ig gut für den Schauspiel­er anfühlen.“

Konsens sind Intimitäts­koordinato­ren nicht. Ein Kollege Tafels, der nicht genannt werden möchte, würde die Anwesenhei­t eines solchen Beraters als „Eingriff in die Arbeitswel­t“empfinden. Er hält die ganze Diskussion für ein Zeichen von „um sich greifendem Puritanism­us“.

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Foto: Teresa Marenzi Julia Effertz ist Schauspiel­erin („Der Lack ist ab“). Sie kämpft gegen sexuelle Übergriffe in ihrer Branche an.

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