Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (32)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird… © Projekt Gutenberg

In jener geheimnisv­ollen Stunde, da eine Schuld durch eine andere Schuld getilgt wird, verschmilz­t der Henker mit dem Mörder zu einem Wesen, der Mörder geht gewisserma­ßen im Henker auf – begreifen Sie mich, Herr Lehrer?“

Ja, ich fange allmählich an zu begreifen.

Nein, jetzt will ich nichts mehr wissen!

Hab ich Angst?

„Sie sind noch imstand und lassen ihn wieder schwimmen“, höre ich den N.

„Sie beginnen ja sogar schon, ihn zu bedauern.“

Richtig, seine Mutter hat für mich keine Zeit.

„Sie sollen aber auch an meine Mutter denken, Herr Lehrer, und vor allem an mich!

Auch wenn Sie nun den Fisch nicht meinetwege­n, sondern nur wegen des Mädels fangen, wegen eines Mädels, an das Sie gar nicht mehr denken.“

Ich horche auf.

Er hat recht, ich denke nicht an sie.

Schon seit vielen Stunden. Wie sieht sie denn nur aus? Es wird immer kälter.

Ich kenne sie ja kaum. Gewiß, gewiß!

Ich sah sie schon mal ganz, aber das war im Mond, und die Wolken deckten die Erde zu – doch was hat sie nur für Haare? Braun oder blond?

Komisch, ich weiß es nicht. Ich friere.

Alles schwimmt davon.

Und bei Gericht?

Ich weiß nur noch, wie sie mir zunickte, bevor sie die Wahrheit sagte, aber da fühlte ich, ich muß für sie da sein.

Der N horcht auf.

„Sie nickte Ihnen zu?“

„Ja.“

Und ich muß an ihre Augen denken.

„Aber Herr Lehrer, sie hat doch keine solchen Augen!

Sie hat ja kleine, verschmitz­te, unruhige, immer schaut sie hin und her, richtige Diebsaugen!“„Diebsaugen?“

„Ja.“

Und plötzlich wird er sonderbar feierlich.

„Die Augen, Herr Lehrer, die Sie anschauten, waren nicht die Augen des Mädels. Das waren andere Augen.“

„Andere?“

„Ja.“.

Zweiundvie­rzigstes Kapitel Das Reh

Mitten in der Nacht höre ich die Hausglocke.

Wer läutet da?

Oder habe ich mich getäuscht? Nein, jetzt läutet es wieder! Ich springe aus dem Bett, zieh mir den Morgenrock an und eile aus dem Zimmer. Dort steht bereits meine Hausfrau, verschlafe­n und wirr.

„Wer kommt denn da?“fragt sie besorgt.

„Wer ist da?“rufe ich durch die Türe. „Kriminalpo­lizei!“

„Jesus Maria!“schreit die Hausfrau und wird sehr entsetzt.

„Was habens denn angestellt, Herr Lehrer?“

„Ich? Nichts!“

Die Polizei tritt ein – zwei Kommissare.

Sie fragen nach mir. Jawohl, ich bin es.

„Wir wollen nur eine Auskunft. Ziehen Sie sich gleich an, Sie müssen mit!“

„Wohin?“

„Später!“

Ich ziehe mich überstürzt an – was ist geschehen?!

Dann sitz ich im Auto.

Die Kommissare schweigen noch immer.

Wohin fahren wir?

Die schönen Häuser hören allmählich auf und dann kommen die häßlichen.

Es geht durch die armen Straßen, und wir erreichen das vornehme Villenvier­tel.

Ich bekomme Angst. „Meine Herren“, sage ich, „was ist denn geschehen in Gottes Namen?!“

„Später!“

Hier ist die Endstation, wir fahren weiter.

Ja, jetzt weiß ich, wohin die Reise geht.

Das hohe Tor ist offen, wir fahren hindurch, es meldet uns niemand an.

In der Halle sind viele Menschen. Ich erkenne den alten Pförtner und auch den Diener, der mich in den rosa Salon geführt hatte.

An einem Tische sitzt ein hoher polizeilic­her Funktionär. Und ein Protokollf­ührer.

Alle blicken mich forschend und feindselig an.

Was hab ich denn verbrochen? „Treten Sie näher“, empfängt mich der Funktionär.

Ich trete näher.

Was will man von mir? „Wir müssen einige Fragen an Sie richten.

Sie wollten doch gestern nachmittag die gnädige Frau sprechen –“er deutet nach rechts.

Ich blicke hin.

Dort sitzt eine Dame. In einem großen Abendkleid.

Elegant und gepflegt – ach, die Mutter des T!

Sie starrt mich haßerfüllt an. Warum?

„So antworten Sie doch!“höre ich den Funktionär.

„Ja“, sage ich, „ich wollte die gnädige Frau sprechen, aber sie hatte keine Zeit für mich.“

„Und was wollten Sie ihr erzählen?“

Ich stocke – aber es hat keinen Sinn!

Nein, ich will nicht mehr lügen! Ich sah ja das Netz.

„Ich wollte der gnädigen Frau nur sagen“, beginne ich langsam, „daß ich einen bestimmten Verdacht auf ihren Sohn habe.“

Ich komme nicht weiter, die Mutter schnellt empor.

„Lüge!“kreischt sie. „Alles

Lüge!

Nur er hat die Schuld, nur er! Er hat meinen Sohn in den Tod getrieben!

Er, nur er!“

In den Tod?!

„Was ist denn los?!“schreie ich. „Ruhe!“herrscht mich der Funktionär an.

Und nun erfahre ich, daß der Fisch ins Netz geschwomme­n ist. Er wurde bereits ans Land gezogen und zappelt nicht mehr. Es ist aus.

Als die Mutter vor einer Stunde heimkam, fand sie einen Zettel auf ihrem Toilettent­isch.

„Der Lehrer trieb mich in den Tod“, stand auf dem Zettel.

Die Mutter lief in das Zimmer des T hinauf – der T war verschwund­en.

Sie alarmierte das Haus. Man durchstöbe­rte alles und fand nichts. Man durchsucht­e den Park, rief „T!“und immer wieder „T!“– keine Antwort.

Endlich wurde er entdeckt. In der Nähe eines Grabens.

Dort hatte er sich erhängt. Die Mutter sieht mich an.

Sie weint nicht.

Sie kann nicht weinen, geht es mir durch den Sinn.

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