Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (33)
Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitaristische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauensbrechend und widerrechtlich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird … © Projekt Gutenberg
Der Funktionär zeigt mir den Zettel. Ein abgerissenes Stück Papier.
Vielleicht schrieb er noch mehr, fällt es mir plötzlich ein.
Ich schau die Mutter an.
„Ist das alles?“frage ich den Funktionär.
Die Mutter schaut weg.
„Ja, das ist alles“, sagt der Funktionär. „Erklären Sie sich!“
Die Mutter ist eine schöne Frau. Ihr Ausschnitt ist hinten tiefer als vorn. Sie hat es sicher nie erfahren, was es heißt, nichts zum Fressen zu haben. Ihre Schuhe sind elegant, ihre Strümpfe sind so zart, als hätte sie keine an, aber ihre Beine sind dick. Ihr Taschentuch ist klein. Nach was riecht es? Sicher hat sie ein teures Parfüm.
Aber es kommt nicht darauf an, mit was sich einer parfümiert.
Wenn der Vater keinen Konzern hätte, würde die Mutter nur nach sich selbst duften.
Jetzt sieht sie mich an, fast höhnisch.
Zwei helle runde Augen.
Wie sagte doch seinerzeit der T in der Konditorei?
„Aber Herr Lehrer, ich hab doch keine Fischaugen, ich hab ja Rehaugen – meine Mutter sagts auch immer.“
Sagte er nicht, sie hätte die gleichen Augen?
Ich weiß es nicht mehr.
Ich fixiere die Mutter. Warte nur, du Reh!
Bald wird es schneien, und du wirst dich den Menschen nähern.
Aber dann werde ich dich zurücktreiben!
Zurück in den Wald, wo der Schnee meterhoch liegt.
Wo du stecken bleibst vor lauter Frost. Wo du verhungerst im Eis.
Schau mich nur an, jetzt rede ich!
Dreiundvierzigstes Kapitel Die anderen Augen
Und ich rede von dem fremden Jungen, der den N erschlagen hat, und
wollte, erzähle, daß der T zuschauen wie ein Mensch kommt und geht. Geburt und Tod und alles, was dazwischen liegt, wollt er genau wissen.
Er wollte alle Geheimnisse ergründen, aber nur, um darüberstehen zu können – darüber mit seinem Hohn.
Er kannte keine Schauer, denn seine Angst war nur Feigheit. Und seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Haß auf die Wahrheit.
Und während ich so rede, fühle ich mich plötzlich wunderbar leicht, weil es keinen T mehr gibt. Einen weniger!
Freue ich mich denn?
Ja!
Ja, ich freue mich!
Denn trotz aller eigenen Schuld an dem Bösen ist es herrlich und wunderschön, wenn ein Böser vernichtet wird!
Und ich erzähle alles. „Meine Herren“, sagte ich, „es gibt ein Sägewerk, das nicht mehr sägt, und es gibt Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen.“
„Was hat das mit uns zu tun?“fragt mich der Funktionär.
Die Mutter schaut zum Fenster hinaus.
Draußen ist Nacht.
Sie scheint zu lauschen.
Was hört sie?
Schritte?
Das Tor ist ja offen.
„Es hat keinen Sinn, einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen“, sage ich, und plötzlich höre ich meine Worte.
Jetzt starrt mich die Mutter wieder an. Und ich höre mich: „Es ist möglich, daß ich Ihren Sohn in den Tod getrieben habe.“
Ich stocke.
Warum lächelt die Mutter?
Sie lächelt noch immer.
Ist sie verrückt?
Sie beginnt zu lachen – immer lauter!
Sie kriegt einen Anfall.
Sie schreit und wimmert.
Ich höre nur das Wort „Gott“. Dann kreischt sie: „Es hat keinen Sinn!“
Man versucht, sie zu beruhigen. Sie schlägt um sich. Der Diener hält sie fest.
„Es sägt, es sägt!“jammert sie. Was?
Das Sägewerk?
Sieht sie die Kinder in den Fenstern?
Ist jener Herr erschienen, der auch auf Ihre Zeit, gnädige Frau, keine Rücksicht nimmt, denn er geht durch alle Gassen, ob groß oder klein.
Sie schlägt noch immer um sich. Da verliert sie ein Stückchen Papier – als hätte ihr wer auf die Hand geschlagen.
Der Funktionär hebt es auf.
Es ist ein zerknülltes Papier. Der abgerissene Teil jenes Zettels, auf dem stand: „Der Lehrer trieb mich in den Tod“.
Und hier schrieb der T, warum er in den Tod getrieben wurde: „Denn der Lehrer weiß es, daß ich den N erschlagen habe. Mit dem Stein.“Es wurde sehr still im Saal. Die Mutter schien zusammengebrochen.
Sie saß und rührte sich nicht. Plötzlich lächelt sie wieder und nickt mir zu.
Was war das?
Nein, das war doch nicht sie. Das waren nicht ihre Augen. Still wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat.
Und traurig wie eine Kindheit ohne Licht.
So schaut Gott zu uns herein, muß ich plötzlich denken. Einst dachte ich, er hätte tückische, stechende Augen – Nein, nein!
Denn Gott ist die Wahrheit. „Sage es, daß du das Kästchen erbrochen hast“, höre ich wieder die Stimme.
„Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht.“
Jetzt tritt die Mutter langsam vor den Funktionär und beginnt zu reden, leise, doch fest: „Ich wollte mir die Schande ersparen“, sagt sie, „aber wie der Lehrer zuvor die Kinder
in den Fenstern erwähnte, dachte ich schon: ja, es hat keinen Sinn.“
Vierundvierzigstes Kapitel Über den Wassern
Morgen fahre ich nach Afrika.
Auf meinem Tische stehen Blumen. Sie sind von meiner braven Hausfrau zum Abschied.
Meine Eltern haben mir geschrieben, sie sind froh, daß ich eine Stellung habe und traurig, daß ich so weit weg muß über das große Meer.
Und dann ist noch ein Brief da. Ein blaues Kuvert.
„Schöne Grüße an die Neger. Der Klub.“
Gestern hab ich Eva besucht. Sie ist glücklich, daß der Fisch gefangen wurde. Der Pfarrer hat es mir versprochen, daß er sich um sie kümmern wird, wenn sie das Gefängnis verläßt.
Ja, sie hat Diebsaugen.
Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen mich niedergeschlagen, und der Z ist schon frei. Ich packe meine Koffer.
Julius Caesar hat mir seinen Totenkopf geschenkt. Daß ich ihn nur nicht verliere!
Pack alles ein, vergiß nichts! Laß nur nichts da!
Der Neger fährt zu den Negern.
ENDE