Erinnerung an den Holocaust als digitales Experiment
Im Deutschen Technikmuseum beantwortet die KZ-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch Fragen zu ihrem Leben. Die Antworten gibt ein animiertes Abbild der 94-Jährigen. So soll Technik gegen das Vergessen helfen
Berlin Die Musik rettete ihr Leben. Mit 17 Jahren wurde Anita LaskerWallfisch nach Auschwitz deportiert. Weil sie Cello spielen konnte, kam sie ins Lagerorchester und überlebte das Konzentrationslager. Während die Schornsteine der Krematorien rauchten, musste die jüdischstämmige Breslauerin dem berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele die „Träumerei“von Schumann vortragen.
Schon bald wird es keine Holocaust-Überlebenden mehr geben, die ihre Geschichten erzählen können. Die Erinnerungen sollen aber erhalten bleiben. Im Deutschen Technikmuseum in Berlin-Kreuzberg wird gerade getestet, wie diese Erzählungen dank moderner Computerund Videotechnik für die Nachwelt erhalten bleiben können.
Auf einer Leinwand ist ein Bild von Anita Lasker-Wallfisch zu sehen. Sie sitzt in einem schwarzen Sessel, die Arme auf der Lehne abgelegt, die Beine übereinandergeschlagen. Besucher können dieses Video-Abbild befragen: „Wo wurden Sie geboren“, fragt eine Mitarbeiterin des Projekts bei der Vorstellung. Ganz kurze Pause. Dann antwortet Lasker-Wallfisch mit klarer, fester Stimme: „Ich wurde in Breslau geboren, das war damals Deutschland.“Eine weitere Frage: „Können Sie uns ihre Eltern beschreiben?“ Frau Lasker-Wallfisch blickt freundlich: „Meine Mutter war eine Schönheit. Mein Vater war ein sehr kluger Mann.“
Wie ist ein solches „Gespräch“mit einem gefilmten Menschen möglich? Die 94-Jährige wurde eine Woche lang intensiv befragt. Sie beantwortete rund 1000 Fragen. Diese wurden unter anderem von einer Schülergruppe aus Konstanz erarbeitet. Die Antworten sind in einer Datenbank gespeichert, die Fragen der Besucher werden von einem
Spracherkennungsprogramm ausgewertet. Dann sucht der Computer die möglichst passende Antwort heraus.
Aufgezeichnet wurde das Video mit Lasker-Wallfisch in einem Raum mit zahlreichen Kameras. Alle ihre Blicke, Gesten und Bewegungen konnten daher eingefangen werden. Ein lebensechtes Video ist entstanden von einer Frau, die Menschen mit ihren Erzählungen in ihren Bann zieht. So auch bei der nächsten Frage: „Wie haben Sie die Pogromnacht erlebt?“Antwort: „Da war ich in Berlin. Am nächsten Morgen waren Scherben überall.“Sogar auf eine Nachfrage findet der Computer die passende Antwort: „Wieso waren Sie in Berlin?“– „Weil es in Breslau keinen Cellolehrer mehr gab, der ein jüdisches Kind unterrichtet hätte.“
Bisher haben 22 Holocaust-Überlebende an dem neuen Computerformat teilgenommen. Das Projekt heißt „Dimensions in Testimony“(zu Deutsch: Zeugnis neuer Dimension) und soll eine neue Art der Erinnerungskultur
schaffen. Dahinter steht eine Stiftung des Oscar-Preisträgers Steven Spielberg. Bisher wurden die Gespräche etwa in Englisch oder Hebräisch geführt. Das erste Interview in deutscher Sprache ist nun mit Anita Lasker-Wallfisch produziert worden. Die Kosten dafür bewegen sich im sechsstelligen Bereich. Sie werden von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“(EVZ) getragen, die ursprünglich für die Entschädigung von Zwangsarbeitern gegründet worden ist. Das Technikmuseum möchte das Projekt gerne dauerhaft in seine Ausstellung integrieren. Jetzt muss aber erst einmal die Spracherkennung des Computers für die deutsche Sprache weiter verbessert werden. Bis Juni sind daher Schulklassen nach Voranmeldung ins Museum eingeladen, um an einer abschließenden Testphase teilzunehmen.
Auch neugierige, sehr persönliche Fragen sind erlaubt, können aber durchaus eine ernste Antwort herausfordern: „Haben Sie vergeben?“Die 94-Jährige, die so viel erlitten hat, wirkt aufgewühlt: „Ich bin nicht der liebe Gott. Ich liege nicht in dem Massengrab. Ich habe nicht das Recht zu vergeben.“
Ton, Bild und Gesten machen die Antworten authentisch