Was wusste Ratzinger?
Ein neues Gutachten über den Umgang mit Missbrauchsfällen soll auch die Rolle des früheren Münchner Erzbischofs untersuchen. Der ist inzwischen emeritierter Papst
München Was wusste Joseph Ratzinger, der inzwischen emeritierte Papst Benedikt XVI., von Missbrauchsfällen zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof? Wie ging er mit ihnen um? Welche Verantwortung, welche Schuld hat er möglicherweise zu tragen?
Es sind Fragen, zu denen seit Jahren recherchiert und über die seit Jahren spekuliert wird. Und auf die es in absehbarer Zeit Antworten geben könnte. Das zumindest lässt die Ankündigung des Erzbistums München und Freising vom Donnerstag erwarten: Das Erzbistum hat bei der Münchner Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, um Missbrauchsfälle im Zeitraum von 1945 bis 2019 untersuchen zu lassen.
Das Spektakuläre an der Ankündigung ist der folgende Satz: „Der Bericht soll veröffentlicht werden und benennen, ob die Verantwortlichen rechtliche Vorgaben sowie die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz
erfüllten und angemessen im Umgang mit Verdachtsfällen und möglichen Tätern handelten.“Mit der Einschränkung: Die Veröffentlichung des Berichts müsse die Vorgaben des Datenschutzes erfüllen.
Das neue Gutachten soll auf einem Gutachten aufbauen, das dieselbe Anwaltskanzlei 2010 erstellt hatte. Der damalige 250 Seiten starke Bericht wurde, trotz aller Transparenz-Beteuerungen vonseiten der katholischen Kirche in Deutschland, zu einem ihrer größten Geheimnisse. Er wurde nie veröffentlicht, aus „Datenschutzgründen“. Wegen der Rolle Ratzingers?
Die überraschende Ankündigung eines neuen Gutachtens fällt in eine Zeit, in der sich die Kirche im Umbruch befindet. Die deutschen Bischöfe sind in Reformfragen sowie in Fragen des Umgangs mit dem anhaltenden Missbrauchsskandal heillos zerstritten und stehen vor der Wahl eines neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz am 3. März. Ihr bisheriger Vorsitzender, der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx, hatte kürzlich – ebenfalls völlig überraschend – erklärt, nicht für eine Wiederwahl zur Verfügung zu stehen. In dem neuen Gutachten steckt also jede Menge Umso mehr, wenn man sich die Hauptbefunde des Gutachtens von 2010 vergegenwärtigt.
Das befasste sich im Auftrag des Erzbistums München und Freising mit sexuellen und „sonstigen“körperlichen Übergriffen durch Priester, Diakone und pastorale Mitarbeiter, es ging um die Jahre 1945 bis 2009. Vorgestellt wurde es am 3. Dezember 2010 von Rechtsanwältin Marion Westpfahl.
Und die kam zu einem vernichtenden Urteil: „Wir haben es mit umfangreichen Aktenvernichtungsaktionen zu tun“, sagte sie. Westpfahl sprach von systematischer Vertuschung, von „vollständiger Nichtwahrnehmung der Opfer“und einem „rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes“. Zur massiven „Aufklärungsverhinderung“habe das Erpressungspotenzial beigetragen, dem homosexuell veranlagte Kleriker – auch höherrangige im Verwaltungsapparat des Erzbistums, dem Ordinariat – ausgesetzt seien. Ihr Ergebnis laut achtseitiger Zusammenfassung der „Kernaussagen des Gutachtens“und laut ihrer Aussagen in der Pressekonferenz damals: Nach Sichtung von etwa 13 200 Akten wurden in 365 Akten Hinweise auf ein „wie immer geartetes Missbrauchsgeschehen“festgestellt, 159 Priester seien „einschlägig auffällig“geworden – doch die tatsächliche Zahl liege wahrscheinlich „wesentlich höher“. Wegen Sexualdelikten seien lediglich 26 Priester verurteilt worden.
Westpfahl sparte auch den damaligen Papst Benedikt XVI. nicht aus, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising war. Auch in seiner Amtszeit sei mit Akten im Ordinariat katastrophal umgegangen worden. Sie habe nur ein Dokument gefunden, in dem Ratzinger mit einem Missbrauchsfall befasst war. In einem mehrseitigen Brief habe er einem Priester klargeBrisanz. macht, dass dieser wegen sexueller Übergriffe aus seiner Pfarrei südlich von München abberufen werden müsse. Ob es eine Strafanzeige gegeben habe, sei, so Westpfahl, nicht sicher. Sie meldete Zweifel daran an.
Ist Ratzinger also, mindestens indirekt, an einer jahrzehntelang innerhalb der Kirche geübten Praxis beteiligt gewesen: der Versetzung auffällig gewordener Priester in andere Pfarrgemeinden? Und zwar „unter Verschweigen der Hintergründe“, wie es die Zusammenfassung des Westpfahl-Berichts vermerkt. Eine Praxis, mit der „weitere Opfer sehenden Auges in Kauf genommen wurden“.
Neben Westpfahl saß der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx. Einen „unbedingten Aufklärungswillen“bescheinigte sie der Bistumsleitung – und damit auch ihm. Ihr Bericht blieb dennoch unter Verschluss, die Fragen zu Ratzingers Verhalten unbeantwortet.
Wie die zu seiner Rolle im Fall Peter H., von dem nicht ganz klar ist, inwiefern er in den von Westpfahl gesichteten Akten vorkommt – und der Ratzinger bereits seit März 2010 verfolgt. Damals wurde publik, dass er 1980 dem Umzug eines pädophilen Priesters von Essen ins Erzbistum München und Freising zustimmte. H. sollte dort therapiert werden – wurde aber als Seelsorger eingesetzt. 1986 wurde H. dann wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu einer 18-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt, doch erst 2010 suspendiert. Dazwischen hatte er als Seelsorger Kontakt zu Kindern und Jugendlichen.
Nach Berichten des Recherchezentrums Correctiv und des ZDFMagazins „Frontal21“aus der vergangenen Woche sollen die Verbindungen zwischen H. und Ratzinger größer gewesen sein, „als die Kirche ... es bis heute wahrhaben“wolle. So soll ein enger Vertrauter Ratzingers jahrelang mit dem Priester eine Gemeinde betreut haben, „ohne zu verhindern, dass dieser sich mit Messdienern umgab, obwohl er – wie die Kirchenleitung – von dessen Gefährlichkeit wusste“. Im Jahr 2000 habe H. sogar geprahlt, Ratzinger habe bei ihm vor der Tür gestanden. Dieser ließ das gegenüber der katholischen Zeitung Tagespost dementieren. Einem Medienbericht zufolge darf der 72-jährige Peter H. mittlerweile keine Priestertätigkeit mehr ausüben. Er gehöre aber weiter dem Klerikerstand an und erhalte Ruhestandsbezüge. »Kommentar
Ein Bericht von 2010 enthält Brisantes