Frenetischer Auftritt
Oded Tzur erweckt eine Legende zum Leben
Neuburg John Coltrane ist weiß, schmächtig, trägt braune Locken und eine Hornbrille. Ansonsten ist fast alles noch so wie 1967: der Anzug, die Krawatte, die Bewegungen, so als würde er mit seinem Tenorsaxofon ringen, es niederkämpfen wollen. Und vor allem der Sound seines Horns. Im Birldland erklingt gerade als Zugabe „Afro Blue“, die Leute im vollen Jazzclub sitzen entweder mit offenen Mündern da oder reiben sich verwundert Augen und Ohren.
Die Reinkarnation des größten aller Saxofonisten, den die Jazzwelt seit seinem Tod vor 53 Jahren schmerzlich vermisst, trägt an diesem Abend den Namen Oded Tzur. Gerade mal 35 ist der unscheinbare junge Mann, der in den Niederlanden geboren ist, in Israel aufwuchs und heute in New York lebt. Er und seine Band spielen gerade den alten Coltrane-Klassiker und es klingt, als stünde der Meister höchstpersönlich da. Aber Tzur ist kein billiger Plagiator. „Sein“Coltrane klingt viel ausgebuffter, kalkulierter, strategischer. Dass dabei ein mindestens ebenso dichtes Intensitätslevel wie beim Original entsteht, ist nur eines von vielen Talenten.
Jeder einzelne Ton gerät bei ihm zum Erlebnis, die Addition dieser Töne entwickelt sich von einer Ansammlung leuchtender, farbiger Kerzen zur berstenden Naturgewalt, einem kontrollierten Freisetzen von Energie. Tzur, den die indische Meisterflötistin Hariprasad Chaurasia in die Mikrotonalität einführte, beherrscht die Kunst der Dramaturgie intuitiv wie Coltrane. Zeitverlauf und Harmonik, ruhige Tempi und Mut zu üppigen, wuchtigen Melodien zeichnen seine ausladenden Kompositionen aus, die Namen wie „20 Years“tragen. Sie beginnen an der Grenze der absoluten Hörbarkeit und zwingen das Publikum, mitunter gar den Atem anzuhalten. Dabei haucht Tzur minutenlang in sein Mundstück, ertastet sich förmlich die Melodie. Pianist Nitai Hershkovits – die zweite sensationelle Neuentdeckung des Konzertes – drückt im Gleichklang die Tasten. Der Bass des Griechen Petros Klampanis tickt dazu wie der ruhige Puls eines buddhistischen Mönches und Drummer Johnathan Blake schrappt so leise mit seinen Sticks über die Becken, als würde sie der Wind im Kellerverlies bewegen.
Ganz langsam schwillt das laue Lüftlein dann zum Sturm an, mächtig, bedrohlich, faszinierend. Wer die Augen schließt, wähnt sich von Coltranes legendären Kumpanen McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones umgeben. Sie kleiden den alten Modern Jazz der 60er in ein zeitgemäßes Outfit, frönen lustvoll ihrer Spiellaune, agieren funky, swingend und orientalisch, gönnen sich authentische Emotionalität und fangen jede Eruption der Gefühle mit ihrem feinen Intellekt wieder ein. Gerade deshalb gerät die zum Niederknien schöne Interpretation des alten ElvisSchmachtfetzens „Can’t Help Falling In Love“in dauerhaft gedimmter Lautstärke zum Kino der akustischen Empfindungen. Zum ersten Mal darf man dabei erleben, wie Schweiß auf der Haut, Tränen im Gesicht und ein inniger Kuss klingen könnten. Ganz selten in den zurückliegenden Jahren reagierte das Publikum im Birdland frenetischer. (rk-)