Neuburger Rundschau

Ein Dorf rutscht ab

Brienz in Graubünden ist hochgefähr­det. Der 100-Einwohner-Ort gleitet immer schneller ins Tal. Zudem droht der Berg oberhalb des Dorfes zu brechen

- VON JAN DIRK HERBERMANN

Brienz Das Dorf Brienz bietet auf den ersten Blick eine Schweizer Bilderbuch­kulisse, zu allen Jahreszeit­en: Die Wege sind sauber, die Gärten präsentier­en sich akkurat gepflegt und die Häuser wirken robust. Die Pfarrkirch­e St. Calixtus mit ihrem steil in den Himmel strebenden Turm verleiht dem Örtchen eine trutzige, eine erhabene Note. Das Gotteshaus wurde im September des Jahres 1519 eingeweiht. Knapp 100 Menschen leben hier auf 1150 Metern Höhe. Feriengäst­e zieht es auch immer wieder nach Brienz.

Doch die Idylle im Kanton Graubünden trügt: Die oberen Teile des Berges oberhalb Brienz brechen langsam weg. Das Dorf könnte von Geröllmass­en begraben werden. „Im schlimmste­n Fall würden 22 Millionen Kubikmeter Fels und Bewuchs am Stück abrutschen“, warnt der Geologe Stefan Schneider. Das entspricht einem Volumen von 22 000 Einfamilie­nhäusern. Die geologisch­en Untersuchu­ngen ergaben, dass die Geröllmass­en immer mehr Fahrt aufnehmen. „Jetzt wird es langsam unangenehm“, sagt Schneider.

Die zuständige Gemeinde Albula/ Alvra registrier­te seit Mitte Februar bei Brienz 40 bis 60 Steinschlä­ge pro

die Kantonsstr­aße zwischen Davos und Lenzerheid­e wurde gesperrt. Vorher waren es täglich nur eine Handvoll Steinschlä­ge gewesen. Zwar sind die herunterfa­llenden Brocken bislang nicht bis Brienz gerollt, doch einige haben es durchaus in sich. „Sie waren schon so groß wie ein VW-Bus“, sagt der Pressespre­cher von Albula, Christian Gartmann.

Die Menschen in der Region richten ihre sorgenvoll­en Blicke vor allem auf 500000 Kubikmeter Fels und Geröll unterhalb der sogenannte­n Hauptabris­skante des Berges. „Diese ,Insel‘ dürfte in Teilen abstürzen“, warnt die Gemeinde in ihrer monatliche­n Mitteilung. Schon 1877, so berichten Chroniken, begann nordöstlic­h des Dorfes eine Felsmasse von 13 Millionen Kubikmeter­n talwärts zu rutschen. Da das aber „relativ langsam und über mehrere Wochen erfolgte, kamen keine Menschen zu Schaden“, heißt es.

Doch nicht nur der Bergsturz droht. Brienz, das sich rühmt, auf einer „Sonnenterr­asse“zu liegen, gleitet selbst talwärts. Und zwar immer schneller. „In den vergangene­n 100 Jahren bewegte sich Brienz wenige Zentimeter pro Jahr“, erklärt Gemeindeve­rtreter Gartmann. „In den letzten 20 Jahren hat sich die

Rutschung aber stark beschleuni­gt.“Jetzt ergaben die Messungen: Das Dorf gleitet pro Jahr um 1,20 Meter ins Tal. Deshalb liegt Brienz seit 2017 in der höchsten, der roten Gefahrenzo­ne, des Kantons.

Im Kern lässt sich das Phänomen so erklären: In der Region ruht hartes Gestein auf dem weichen „Flysch-Schiefer“. Zudem befindet sich im Erdinneren viel Wasser. Das ergibt zusammen eine Gleitfläch­e: Das Dorf rutscht so immer weiter ab. In etwa die gleiche Konstellat­ion ermittelte­n die Geologen auf dem Berg. Eine harte, spröde Kuppe liegt auf dem weichen Schiefer. Die obere Schicht gleitet ebenso immer weiter weg. „Wir wissen aber nicht, warum die Rutschunge­n sich nun so beschleuni­gen“, betont Geologe Schneider.

Der Klimawande­l spielt seiner Meinung nach keine Rolle. „Mit großer Wahrschein­lichkeit läuft das alles unabhängig von der Erderwärmu­ng ab.“Schneider betont, es müsse versucht werden, so viel Wasser wie möglich aus dem Gestein zu holen. Nur, wie das genau geschehen soll, bleibt unklar.

Die Folgen sind überall in Brienz zu sehen: Inzwischen ziehen sich Risse durch Häuser und Ställe, Türen und Fenster klemmen, einzelne Gebäude mussten bereits als TotalTag, schaden abgeschrie­ben werden. Neubauten sind seit 2017 verboten.

Und wie reagieren die Einwohner? „Mein Eindruck ist, dass sich die Bevölkerun­g sehr ruhig und besonnen verhält“, erklärt Bruno Casutt, amtierende­r Stabschef des Führungsst­abes der Gemeinde. Und Gartmann ergänzt: „In Brienz herrschen weder Angst und Schrecken, noch Hektik.“

Die Brienzer wissen aber schon lange, dass sie möglicherw­eise irgendwann ihre geliebte Heimat verlassen müssen. Für immer. Die Gemeinde verschickt­e Pläne für eine eventuelle Evakuierun­g. „Ereignisse, die unseren Alltag auf den Kopf stellen oder unsere Sicherheit gefährden können, sind auch bei uns möglich – auch wenn wir uns hier sicher fühlen“, heißt es darin. Dann folgen minutiöse Instruktio­nen für die Bürger. „Falls genügend Zeit vorhanden ist, packen Sie ein, was Sie selber mitführen können, persönlich­e Unterlagen, Fotoalben, Computer, Laptop und Speicherme­dien.“Die Behörden beabsichti­gen, alle Menschen geordnet aus der Brienzer Gefahrenzo­ne herauszuho­len. Innerhalb von sechs Stunden. Im Notfall ginge es aber auch viel schneller, heißt es. Wann es aber soweit sein könnte, ist bisher völlig unklar.

 ?? Foto: Kurt Winkler, CSD Ingenieure ?? Der Berg über Brienz wird zunehmend zur Gefahr für den Ort.
Foto: Kurt Winkler, CSD Ingenieure Der Berg über Brienz wird zunehmend zur Gefahr für den Ort.

Newspapers in German

Newspapers from Germany