Auskuriert?
Die Zahl der Kuren geht immer weiter zurück. Das Image scheint ein wenig angestaubt, die Krankenkassen lehnen viele Anträge ab. Eine Geschichte über eine Branche im Wandel, Heusäcke im Bett und das Vermächtnis von Sebastian Kneipp
Bad Wörishofen Dem Zuber wohnt ein Zauber inne. Denn mit einem hölzernen Fässchen fängt die Geschichte an. In Wörishofen kuriert Pfarrer Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert seine Patienten. Es sind karge, entbehrungsreiche Zeiten, viel hat Kneipp zunächst nicht. Nur eine Schöpfkelle, eine Gießkanne – und eben einen Zuber.
Ein solches Fass – allerdings aus Metall – steht im Kneipp-Museum in Bad Wörishofen. Durch die Fenster fällt das fahle Winterlicht eines nass-grauen Tages, draußen taumeln Schneeflocken zu Boden. In der Ecke steht eine Fußbadewanne, daneben ein Heusack-Dampfkessel, in den Regalen liegen Püppchen, an denen die Kneipp’schen Wickel gezeigt werden. Und dann sind da noch die Bücher. Über Wasser und Wärme, Kälte und Kräuter. Und eines davon ist etwas ganz Besonderes. „Meine Wasser-Kur“steht in zarten Buchstaben darauf geschrieben. Das Büchlein wurde in 14 Sprachen übersetzt und ist das Fundament der berühmten KneippKur.
Die Kur also. Sommerfrische in den Bergen, am Meer, weit weg jedenfalls vom Großstadtmief, den Sorgen. Die Seele pflegen, den Körper stärken, sich selbst finden – und vielleicht eine kleine Romanze. Mit dem Kurschatten. Bussis vor der Bürstenmassage, Flirten nach der Fangopackung, derlei Dinge eben. Und man denkt an Thomas Mann und seinen „Zauberberg“. Diese entrückte Welt eines Sanatoriums in den Bergen, wo alles Menschliche – Liebe und Schmerz, Politik und Philosophie, Krankheit und Tod – konserviert ist. Eine Kur ist, wenn man so will, eben auch ein eigener Kosmos.
Als Sebastian Kneipp in Wörishofen – das übrigens vor 100 Jahren den Titel „Bad“verliehen bekam – tätig war, reisten die Menschen aus dem ganzen Land an, um sich behandeln zu lassen. Zwei Weltkriege später, in den 50er und 60er Jahren, erfuhr die Kur überall in Deutschland eine immense Beliebtheit. Und heute?
Das Image scheint mittlerweile ein wenig angestaubt zu sein. Und man muss sich schon fragen: Was ist aus der Kur-Passion der Deutschen geworden? Zahlen die Kassen überhaupt noch etwas? Kann und will die Kur mit den hippen HochglanzWellness-Tempeln überhaupt mithalten? Kurzum: Sind wir auskuriert?
Die „Kuroase im Kloster“. Ein Hotel mitten in Bad Wörishofen, wo die Original-Kneipp-Kur angeboten wird. An jenem Ort, an dem der berühmte Pfarrer einst selbst wirkte. Tanja Bornemann, Hotelchefin, sitzt im Entree des Hauses an einem kleinen Kaffeetisch. Bornemann – lange blonde Haare, kariertes Sakko – faltet die Hände vor sich und macht zu Beginn des Gesprächs deutlich: „Wir sind eine Wohlfühloase, in der Menschen zur Ruhe kommen und sich verwöhnen lassen können, aber kein Wellnesshotel.“Natürlich gebe es auch entspannende Massagen sowie vielerlei andere Annehmlichkeiten, aber im Vordergrund stehe vor allem der gesundheitliche Aspekt. Wer in der Kuroase eine Original-Kneipp-Kur bucht, der hat die Möglichkeit, mit einem Arzt zu sprechen, der einen Behandlungsplan erstellt, der auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist und sich an den fünf Säulen der Kneipp’schen Lehre orientiert. Etwa: eine Anwendung mit gedämpften Heusäcken im Bett. Gymnastikübungen, Faszientraining oder meditative Gesänge. „Die Menschen kommen hierher, weil sie präventiv etwas für ihre Gesundheit tun wollen, entschleunigen und aus der Ruhe Kraft schöpfen wollen“, sagt Bornemann.
64 Zimmer hat das Hotel – davon sind 40 Einzelzimmer. Denn die meisten Menschen, die eine Kur machen, sind Alleinreisende. Und längst nicht nur Senioren. „Die Altersstruktur hat sich in den vergangenen Jahren etwas verjüngt“, sagt Bornemann. „Die Mittfünfziger, die noch im Berufsleben stehen, wollen sich etwas Gutes tun. Die Leute sind einfach gesundheitsbewusster geworden.“Dann steht sie auf, läuft einen lichten Flur mit weißen Wänden entlang, öffnet eine Tür zu ihrer Linken und betritt die Badeabteilung. In der Mitte des Raumes steht ein großes Becken zum Wassertreten. Rechts und links davon führen Türen zu kleinen Kabinen, in denen Arm- oder Sitzbäder verabreicht werden.
In einem anderen Zimmer, eine Etage höher, sitzen ein paar Gäste in gemütlichen Sesseln und trinken Tee. „Mir tut das hier gut. Nach drei Tagen fühlt man sich wirklich besser“, sagt eine Frau, die schon öfter eine Kneipp-Kur gemacht hat. Hotelchefin Bornemann lächelt. „In unserem Gesundheitshotel ist das Einfache das Besondere“, sagt sie. Dieses Besondere zahlen allerdings immer mehr Menschen selbst. Denn sehr oft werden Anträge für eine Kur von den Kassen abgelehnt.
Ganz generell sieht die Sache mit den Kassen so aus: Im Sozialgesetzbuch spricht man nicht von Kuren, sondern von medizinischen Vorsorgeleistungen. Dem GKV-Spitzenverband der Krankenkassen zufolge gibt es ambulante und stationäre Angebote sowie spezielle Angebote für Eltern-Kind-Maßnahmen. „Um Vorsorgemaßnahmen zu erhalten, müssen die Versicherten vorab einen medizinisch begründeten Antrag bei der Krankenkasse stellen“, teilt GKV-Sprecherin Janka Hegemeister mit. Generell müsse eine medizinische Notwendigkeit vorliegen.
Einen Antrag auf eine Kur bewilligt zu bekommen, das sei allerdings schwierig, sagt Petra Nocker, Bad Wörishofens Kurdirektorin. Sie sitzt in ihrem Büro, durch die Fenster blickt man auf den LuitpoldLeusser-Platz, auf dem eine feine Schneeschicht liegt. Gleich neben ihrem Schreibtisch steht eine lebensgroße Kneipp-Pappfigur. Nocker lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor ihrer weißen Bluse und sagt: „Das ist ein PingpongSpiel zwischen Ärzten und Kassen. 90 Prozent der Anträge werden abgelehnt.“
Bis in die 90er Jahre sei das anders gewesen, fährt Nocker fort. Dann kam eine Gesundheitsreform – die klassische Drei-Wochen-Kur, wie sie früher üblich war, gebe es seither kaum mehr. „Die Anträge werden abgelehnt und der Kur-Gedanke verschwindet aus den Köpfen der Menschen. Es gab Zeiten, da fuhr man jedes Jahr für ein paar Wochen zur Kur – heute geht man eben ins Burnout.“
Dass es in der Branche einen gewaltigen Wandel gibt, das zeigen auch die Zahlen. Nocker öffnet auf ihrem Computer ein Dokument, das deutlich macht, wie sehr sich das Kur-Wesen verändert hat: Mitte der 90er Jahre gab es in Deutschland rund 900000 Kuren pro Jahr. 2018 waren es nurmehr knapp über 34 000 – ein Bruchteil. Immerhin, in Bad Wörishofen, einem von rund 50 bayerischen Kurorten und Heilbädern, sei der prozentuale Anteil an allen Kuren im Freistaat über die Jahre gleich geblieben. Die tatsächlichen Zahlen sinken aber auch hier.
Hat sie Angst, dass da eine ganze Branche ausstirbt? „Nein“, sagt Nocker. „Ich glaube, wir stehen vielmehr am Beginn einer wunderbaren Entwicklung. Es ist heute nichts Besonderes mehr, um die halbe Welt zu fliegen. Der Erholungsfaktor dabei ist gleich null, und es belastet die Umwelt. Die Menschen wollen so etwas nicht mehr.“Was die Menschen sich wünschen, sei das: ein ganzheitliches, naturnahes Erlebnis. Etwas, das auf Geist und Körper wirkt. Und genau das mache die Kneipp-Gesundheitsangebote schließlich aus, die sich deswegen auch nicht vor großen Wellness-Hotels verstecken müssten, wo dieser ganzheitliche Ansatz eben oft nicht verfolgt werde.
Allerdings, sagt Nocker, sei das Wort „Kur“in der Tat mitunter schwierig. „Denn es steht schon für etwas, das vergangen ist. Aber Kneipp ist aktueller denn je.“Nocker, die als Kind selbst oft Kneippwickel von ihrer Mutter bekommen hat, blickt auf die gegenüberliegende Wand und lächelt. Sie schaut auf das große Bild, das Sebastian Kneipp zeigt. „Er strahlt einfach so viel Zuversicht aus“, sagt sie.
Zuversichtlich ist auch Klaus Holetschek, Staatssekretär und Vorsitzender des Bayerischen HeilbäderVerbands. „Wir haben den Strukturwandel im Kurwesen positiv umgesetzt und viele neue Programme entwickelt.“Jede vierte Übernachtung in Bayern im Tourismus finde in einem Kur- oder Heilbad statt. „Das ist sehr viel“, sagt Holetschek. Dennoch räumt auch er ein, dass das Problem sei, dass viele Anträge auf eine Kur abgelehnt würden. In der Folge stellten die Menschen immer weniger Anträge – das Ganze sei eine Abwärtsspirale. Man dürfe aber nicht vergessen, dass die medizinischen Vorsorgeleistungen im Sozialgesetzbuch stehen. „Deswegen wollen wir die Menschen auch ermutigen, Anträge zu stellen“, sagt Holetschek.
Zurück im Kneipp-Museum in Bad Wörishofen, wo das Leben von Sebastian Kneipp erzählt wird. In einem Regal steht ein Bierwärmer, daneben liegt eine Schnupftabakdose. Man sieht sein Bett, seinen alten Waschtisch und ein filigranes Silberkrönchen, das zu seinem 25. Priesterjubiläum angefertigt wurde. In einer anderen Vitrine des Museums liegt ein Buch von Johann Siegmund Hahn. Es ist eine der ersten Publikationen zum Thema Wasserheilkunde, auf die Kneipp seine Lehre aufbauen sollte, der Grundstein also für seine späteren Behandlungen. Viel hatte Kneipp damals zunächst nicht. Nur eine Gießkanne. Eine Schöpfkelle. Und einen hölzernen Zuber.
Wörishofen erhielt vor 100 Jahren den Titel „Bad“ Die Menschen wünschen sich ein naturnahes Erlebnis