„Um vier Uhr nachts ist es am schlimmsten“
Joseph Beuys, Gerhard Richter, Cindy Sherman und viele andere: Lothar Schirmer ist einer der renommiertesten deutschen Kunstbuchverleger. Ein Gespräch über Auflagen, Albträume und die Muttergottes
Herr Schirmer, gerade haben Sie ein Buch mit Vorträgen und Texten über Ihre Künstler vorgelegt, und man merkt: Das Verlagsprogramm ist schon ein sehr persönliches. Hat es deshalb funktioniert?
Schirmer: Es hat eher funktioniert, weil es mir gelungen ist, meine eigene Faulheit zu überwinden, und meine Energien zu aktivieren. Bücher zu machen, setzt einen großen Einsatz voraus, weil die Partner – meistens Künstler – in der Regel ganz andere Vorstellungen von sich haben. Das passt nicht unbedingt zu dem, was Sie als Verleger in die Welt tragen können. Aber ich habe mir auch einen Traum erfüllt, und es ist immer noch nicht zum abrupten Erwachen gekommen, von dem man ab und zu träumt, wenn man träumt.
Wird man nicht irgendwann entspannter?
Schirmer: Nein, nein, die Stunde um vier Uhr nachts ist immer die schlimmste. Büchermachen ist jedes Mal eine Terminsache, egal wie lange ein Projekt dauert. Und dann muss es a) schön sein, und b) muss alles richtig sein.
Lagen Sie mit einem Titel schon einmal richtig daneben, oder spricht man darüber nicht?
Schirmer: Man spricht darüber nicht, weil man es sofort verdrängt. Und wenn nicht, dann war alles richtig, nur der Zeitpunkt der falsche … Aber es gibt auch Dinge, die einfach in technischer Hinsicht misslingen. Es geht ja darum, etwas in die Buchform zu übertragen, das in anderer Form vorliegt wie etwa Malerei. Das ist immer eine Interpretation. Würde das ständig funktionieren, wäre man steinreich geworden. Wobei Erfolg immer relativ ist. Manchmal ist man froh, wenn man 1200 Stück verkauft hat, manchmal bei 20 000 Stück.
Welches sind denn die Zugpferde in Ihrem Verlag? Die Bücher von Isabella Rossellini?
Schirmer: Das erste Buch mit Isabella war ein ganz großer Erfolg. Von ihrer Autobiografie „Some of Me“hatten wir 40000 Bücher in sechs Wochen verkauft. Als sie 1997 nach München kam, war das ein Medien
26 Interviews in drei Tagen! Aber gleich Heinrich Zille, das erste Buch im Jahr 1975, war ein riesiger Erfolg. Und anstatt mit einem Berg Schulden dazusitzen, waren wir relativ flüssig, um weiter zu machen. Wegen Zille kam dann auch Helmut Newton zu uns. Und genauso hat Helmut wiederum viel ermöglicht.
Zum Beispiel?
Schirmer: Newton hat die ganzen Bücher der Becher-Schule finanziert. Ich will da ganz offen sein: Wenn Sie 1200 Exemplare „Hochöfen“oder „Fördertürme“von Bernd und Hilla Becher verkaufen, liegt der Umsatz nicht im fünfstelligen Bereich. Was die Zahlen betraf, wir da wieder sehr demütig. Wir hatten ja nichts, das für Stabilität sorgen konnte.
Sie meinen eine Backlist mit weiteren lieferbaren Titeln?
Schirmer: Ja, wir haben im ersten Jahr von der Hand in den Mund gelebt und sind über sehr dünnes Eis gelaufen. Später hat sich dann herausgestellt, dass das Eis gar nicht so dünn war, sondern im Lauf der Zeit immer dünner wurde. Es gab am Anfang keine Konkurrenz, wir waren die Einzigen, die Fotobücher verlegten. Dann haben das alle Verlage gemacht. Aber es kam zum Glück immer etwas Außergewöhnliches: Annie Leibovitz hat uns riesige Auflagen beschert, dann Peter Lindereignis, bergh mit seinen Models. Immer wenn wir dachten, es geht jetzt nicht mehr weiter, kam wieder etwas Besonderes. Jetzt zum Beispiel ein Buch über Notre Dame, das uns in dieser schrecklichen Zeit bei Laune hält. Und das hat auch zu ganz neuen Einsichten geführt.
Inwiefern?
Schirmer: Notre Dame ist der Muttergottes geweiht, und das letzte Bild im Buch ist eine Marienskulptur aus dem 14. Jahrhundert. Genau diese Skulptur blieb beim großen Brand unbeschädigt. Ich habe mich mit ihr unterhalten, und die Madonna versprach mir, dass sie alle, die am Buch mitarbeiten, besonders schützt. Das hat mich fast schon bewurden ruhigt, und das Aufwachen um vier Uhr nachts war nicht mehr so schlimm.
Was machen Sie eigentlich, wenn Sie früher aufwachen?
Schirmer: Dann stehe ich auf, setze mich auf meinen Sessel im Wohnzimmer und schaue mir meine Bilder im herben Licht der Straßenlaterne an. Das sieht dann sehr schön aus. Nach zehn Minuten kann ich wieder aufstehen und einschlafen. In jüngster Zeit betrachte ich meine Bilder in unterschiedlicher Beleuchtung.
Das Sammeln können Sie nicht lassen. Welche Kriterien müssen erfüllt sein? Schirmer: Ich muss es mögen und bezahlen können. Die Künstler müssen zur Sammlung passen und ihre Werke Bestand haben. Der Eindruck, dass ich sie auch in ein paar Jahren noch kaufen würde, ist entscheidend. Ich erwerbe inzwischen manches, worüber ich mit 20 nur höhnisch gelacht hätte. Jung war ich wirklich radikal, doch es ändert sich alles. Und wenn ich jetzt zum Sitzen in meiner Klausur verdammt bin, ist es ganz schön, dass ich die Bilder um mich habe. Ich kann mich mit ihnen gut unterhalten.
Würden Sie heute wieder einen Verlag gründen?
Schirmer: Ich habe den Verlag ja gegründet, um der Kunst näher zu kommen. Ich sehe die tollsten Dinge – und ich kann sie aufgreifen, wenn ich will. Ökonomisch gesehen ist die Sache so schwierig geworden wie mit meinem allerersten Buch 1972, als ich noch Student war. Von diesem Band mit Beuys-Zeichnungen habe ich in einem Jahr 800 Exemplare verkauft, Sie müssen aber 2000 absetzen. Doch ich habe einen wunderbaren Beruf, ich möchte mich nicht beklagen.
Sie haben sicher noch einiges vor? Schirmer: Mit fünfundsiebzig bekommt man durchaus ein Gefühl für die Begrenztheit der eigenen Zeit. Aber ich bin auch fremdgesteuert: Wenn einer meiner Autoren anruft und sagt, er will das und das machen, kann ich in der Regel nicht ablehnen. Das Buch muss ja gemacht werden!