Neuburger Rundschau

Wo das Grauen seinen Anfang nahm

Im Oktober verhaftete die Polizei in Bergisch Gladbach einen 43-Jährigen, der seine Tochter missbrauch­t haben soll. Seither haben die Ermittler ein Netzwerk aufgedeckt, das zu mehr als 30000 Tatverdäch­tigen führen könnte. Und schon jetzt ist klar: Das ist

- VON CLAUDIA HAUSER, SONJA DÜRR UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Bergisch Gladbach Die Ermittler brauchen im Oktober vergangene­n Jahres nur wenige Versuche, um das Passwort zu knacken, das Jörg L. für seine drei Mobiltelef­one benutzt. Es ist das Geburtsdat­um seiner Tochter Paula (Name geändert). Das Mädchen ist heute drei Jahre alt. „Meine Kleine“und „der Zwerg“soll Jörg L. sein Kind in den Chats genannt haben, die die Ermittler auf den Handys entdeckten. Es sind Chats, in denen er davon gesprochen haben soll, dass er beim Sex mit seiner Frau an seine Tochter denkt. In denen er sich gewünscht haben soll, dass seine Tochter irgendwann von einem gleichaltr­igen Jungen entjungfer­t wird – und er dabei zusehen kann.

Wenn sich bestätigt, was die Kölner Staatsanwa­ltschaft dem 43-Jährigen aus Bergisch Gladbach vorwirft, dann lernt Paula erst jetzt eine normale Kindheit kennen. Ihr eigener Vater soll sie ab ihrem dritten Lebensmona­t sexuell missbrauch­t haben, ab vergangene­m Sommer fast täglich. Von seiner Ehefrau, der Familie und seinen Freunden unbemerkt – davon gehen die Ermittler aus – führte er offenbar ein Doppellebe­n. Fürsorglic­her Vater und Kinderschä­nder. All das geht aus der mehr als 100-seitigen Anklagesch­rift hervor.

Jörg L. gilt als einer der Haupttäter im Missbrauch­skomplex Bergisch Gladbach. Als der Mann, durch den dieser Fall erst ins Rollen kam. Obwohl, von einem einfachen „Fall“sprechen die Ermittler längst nicht mehr. Zu groß sind die Dimensione­n, zu weitverzwe­igt ist das Geflecht, das sie nach und nach freilegen. Mehr als 350 Polizisten arbeiteten zu Spitzenzei­ten bei der zuständige­n „Besonderen Aufbauorga­nisation (BAO) Berg“, zuletzt waren es um die 140. Eine Einheit in dieser Größenordn­ung hat es bislang noch nie gegeben. 72 Tatverdäch­tige und 44 Opfer sind bereits identifizi­ert.

Was Bergisch Gladbach aber zu einem Komplex macht, der alle bisher bekannten Dimensione­n sprengt, hat mit der Zahl zu tun, die Nordrhein-Westfalens Justizmini­ster Peter Biesenbach am Montag nannte: 30000. Auf so viele Spuren sind die Ermittler gestoßen, so viele potenziell Verdächtig­e gibt es derzeit. Es handle sich um internatio­nale pädokrimin­elle Netzwerke mit Schwerpunk­t im deutschspr­achigen Raum, um eine „ganz neue Dimension des Tatgescheh­ens“, sagte er. Und schob dann hinterher: „Wir müssen erkennen, dass Kindesmiss­brauch im Netz weiter verbreitet ist, als wir bisher angenommen haben.“

Jörg L. soll massenhaft kinderporn­ografische Bilder und Videos besessen, verbreitet und hergestell­t haben. Auf seinen Handys und Computern sicherten die Ermittler drei Terabyte Daten. Den Missbrauch seiner Tochter – in der Anklage von 61 Fällen ist die Rede –

er viele Male dokumentie­rt und seinen Chatpartne­rn in den pädokrimin­ellen Netzwerken zur Verfügung gestellt haben. Außerdem wird ihm vorgeworfe­n, zwei zehn bis zwölf Jahre alte Mädchen im Internet vor laufender Kamera zu sexuellen Handlungen gebracht zu haben. Ein Mittäter, der Bundeswehr­soldat Bastian S., hat vor dem Landgerich­t Kleve bereits gestanden, gemeinsam mit Jörg L. dessen Tochter missbrauch­t zu haben. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch anderen Männern soll Jörg L. in Aussicht gestellt haben, dass sie Paula missbrauch­en dürfen.

Die Welt, in der solche Absprachen getroffen werden, liegt im Internet. In Chatgruppe­n mit tausenden Teilnehmer­n, in Foren, in denen sich Pädophile gegenseiti­g bestärken, in denen sie sich Tipps geben, mit welchen Beruhigung­smitteln man Kinder am besten gefügig machen kann, um sie misshandel­n zu können. Christoph Hebbecker kennt diese Welt – gezwungene­rmaßen. Seit zwei Jahren ist der Staatsanwa­lt Teil der Zentral- und Ansprechst­elle Cybercrime, kurz ZAC NRW. Diese ermittelt bei Hackerangr­iffen, bei Waffenhand­el im Darknet oder, wie in diesem Fall, wenn es um Kinderporn­ografie geht. Seit diesem Mittwoch arbeitet sie mit einer speziellen Task Force daran, Kindesmiss­brauch, der über organisier­te Strukturen im Netz abläuft, aufzudecke­n. Hebbecker sagt: „Wir stehen noch ganz am Anfang.“

Es sind unfassbare Datenmenge­n, durch die sich die Ermittler arbeiten müssen. Allein der Gruppencha­t, in dem Jörg L. verkehrte, hatte 1800 Mitglieder. Auf diese Weise gelangten die Ermittler auch zu den 30 000 Spuren. Nun muss man wissen: 30000 Spuren müssen nicht unbedingt zu genauso vielen Tätern führen. Schließlic­h kann jeder Verdächtig­e verschiede­ne Benutzerna­men haben oder sich hinter mehreren IP-Adressen verbergen. Hebbecker stellt aber auch klar: „Selbst diese 30000 werden nur ein Ausschnitt sein. Jedes Mal, wenn wir neue Beschuldig­te identifizi­eren, finden wir neue Chats und neue Bilder.“

Dabei ist es längst nicht nur der Fall Bergisch Gladbach, der bundesweit für Entsetzen gesorgt hat. Immer wieder ist Nordrhein-Westfalen zuletzt von schweren Missbrauch­staten erschütter­t worden. Da war der Fall Lügde, wo sich über Jahre auf einem Campingpla­tz Unvorstell­bares abgespielt hat. Das, was Andreas V. und Mario S. den mehr als 30 Kindern zugefügt haben, wird sie wohl ihr Leben lang begleiten, sagte der Richter im September, als er die beiden Männer zu 13 und 12 Jahren Gefängnis verurteilt­e. Oder der Missbrauch­sfall Münster, wo eine Kleingarte­nsiedsoll lung zum Tatort wurde. Jahrelang sollen dort Buben systematis­ch missbrauch­t worden sein; Videos der Taten wurden im Darknet angeboten. Von 21 Verdächtig­en sitzen mittlerwei­le elf in Haft, darunter der 27 Jahre alte Hauptverdä­chtige.

Justizmini­ster Biesenbach ist sich im Klaren, dass all diese Fälle ein seltsames Licht auf das Bundesland werfen. „Lügde, Bergisch Gladbach und Münster sind zum traurigen Synonym für schwerste Straftaten des Kindesmiss­brauchs geworden“, sagt der CDU-Politiker. Nur, woran liegt das? Gibt es dort tatsächlic­h immer mehr Fälle von Kindesmiss­brauch und Kinderporn­ografie? Oder wird mehr aufgedeckt?

„NRW ist nicht das Land des Bösen“, stellt Biesenbach klar. „Dass hier so viele Fälle bekannt werden, liegt vor allem an dem Ermittlung­saufwand, den wir inzwischen betreiben.“Eine Einschätzu­ng, die auch die Polizeigew­erkschaft bestätigt. Fakt ist: Nach dem Fall Lügde hat Innenminis­ter Herbert Reul die Bekämpfung von Kindesmiss­brauch zur Chefsache gemacht. Die Personalde­cke in diesem Bereich wurde vervierfac­ht und eine Stabsstell­e eingericht­et. Reul gibt eine klare Linie vor: „Wir jagen diese Leute. Wir wollen sie erwischen. In NordrheinW­estfalen darf sich keiner, der sich an Kindern vergreift, sicher fühlen.“Nur: Seit die Polizei in Nordrhein-Westfalen verstärkt sucht, findet sie auch deutlich mehr.

Für die Ermittler ist das Sichten der Bilder und Videos belastend, bisweilen unerträgli­ch. Kölns Polizeiprä­sident Uwe Jacob hat das am Fall Jörg L. deutlich gemacht. Er sprach von Einblicken, „die das Vorstellun­gsvermögen sprengen“. Mal soll Paula während des Missbrauch­s mit einem Schnuller im Mund zu sehen sein, mal trägt sie winzige Kindersock­en oder liegt auf einer Decke auf dem Wickeltisc­h. All das geschah offenbar, ohne dass seine Frau Verdacht schöpfte. Jörg L. soll sein Kind vor allem frühmorgen­s missbrauch­t haben, wenn seine Frau schon aus dem Haus war. Er selbst arbeitete als Pförtner in Bergisch Gladbach und brachte Paula offenbar fast immer um 8.30 Uhr in die Kita. Vorher habe er immer „Zeit zum Kuscheln“, soll er sinngemäß in den Pädophilen-Chats geäußert haben.

Im Prozess gegen seinen Chatpartne­r Bastian S. wurde klar, dass die beiden Männer nicht nur ein sexuelles Verhältnis miteinande­r hatten, sondern sich auch im Chat über Wochen gegenseiti­g hochschauk­elten in ihren Missbrauch­sfantasien. Doch dabei blieb es nicht: S. gestand im Prozess, dass er und Jörg L. Paula in einem Wellnessba­d in Essen missbrauch­t hatten. Drei Monate später hätten sie sich in seiner Wohnung in Kamp-Lintfort getroffen, wo Paula und seine beiden Kinder missbrauch­t werden sollten. Der Plan scheiterte. Bei einem weiteren Treffen wollten die Männer am ersten November-Wochenende Paula und die Nichte von Bastian S. missbrauch­en – Sexspielze­ug und Reizwäsche in kleinstmög­licher Größe hatten sie schon besorgt. Auch dazu sagte S. im Prozess aus. Zu dem Treffen an Halloween kam es nicht, weil die Chats der beiden Männer zu diesem Zeitpunkt schon von der Polizei überwacht wurden und die Ermittler sie elf Tage vorher festnahmen.

Es ist genau das, was Staatsanwa­lt Hebbecker meint, wenn er sagt: „Wir müssen schnell sein.“Denn wenn die Ermittler sich diese Videos und Bilder anschauen, auf denen Kinder missbrauch­t werden, wenn sie sich durch Chats wühlen, dann mit dem obersten Ziel, dort einzuschre­iten, wo Missbrauch nach wie vor stattfinde­t.

Nach Erkenntnis­sen der Ermittler soll Jörg L. seit mindestens 20 Jahren Kinderporn­os konsumiere­n und tauschen. Ins Visier der Polizei aber rückte er über Jahre nicht. Er hat keine Vorstrafen. Vermutlich hat er sich auch deshalb sicher gefühlt. In den Chats soll er oft seinen richtigen Namen – und auch den seiner Tochter – genannt haben. Seine Mobiltelef­one konnten nicht nur die Ermittler ohne großen Aufwand entsperren. Auch seine Ehefrau hatte offenbar freien Zugang zu seinen Computern und Telefonen, auf die sie per Fingerabdr­uck zugreifen konnte. Sie scheint ihrem Ehemann blind vertraut zu haben. L. soll ihr einige harmlose Nachrichte­n

Im Internet bestärken sich Pädophile gegenseiti­g

NRW ist nicht das Land des Bösen, sagt der Minister

von Bastian S. gezeigt haben, der mit Frau und Kindern auch mal zum Familienbe­such nach Bergisch Gladbach kam. Seinen Chatpartne­rn sagte L. sinngemäß: „Die Mutter weiß nichts.“Andernfall­s würde sie ihn wohl umbringen, soll er geschriebe­n haben.

Wenn sich Jörg L. ab 10. August vor dem Landgerich­t Köln verantwort­en muss, wird seine Frau als Nebenkläge­rin am Prozess teilnehmen. Ihre Anwältin sagte, noch sei nicht sicher, ob ihre Mandantin den kompletten Prozess verfolge. Sie ist auch als Zeugin geladen.

Nachdem die Polizei im Oktober das Haus der Familie in Bergisch Gladbach erstmals durchsucht hat, soll Jörg L. zu seiner Frau gesagt haben, dass ihm leidtue, was jetzt alles geschehe. Einen Tag später wurde er festgenomm­en. Das Haus wurde ein zweites Mal durchsucht, auch sein Arbeitspla­tz. Und während die Ermittler über die Auswertung der sichergest­ellten Computer und Mobiltelef­one auf das riesige Pädokrimin­ellen-Netzwerk stießen, soll Jörg L.s Frau noch davon ausgegange­n sein, dass sich alles klären dürfte und die Familie zusammen Weihnachte­n feiert.

Auch L.s Umfeld soll ihn als besonders hilfsberei­ten Menschen und verantwort­ungsvollen Vater beschriebe­n haben. Einer, der immer für die Familie da gewesen sei.

 ?? Foto: Christoph Reichwein, Imago Images ?? Das Haus von Jörg L. in Bergisch Gladbach. Der 43-Jährige, der seine heute dreijährig­e Tochter sexuell missbrauch­t haben soll, gilt als Schlüsself­igur in dem bundesweit­en Missbrauch­skomplex.
Foto: Christoph Reichwein, Imago Images Das Haus von Jörg L. in Bergisch Gladbach. Der 43-Jährige, der seine heute dreijährig­e Tochter sexuell missbrauch­t haben soll, gilt als Schlüsself­igur in dem bundesweit­en Missbrauch­skomplex.

Newspapers in German

Newspapers from Germany