Wo das Grauen seinen Anfang nahm
Im Oktober verhaftete die Polizei in Bergisch Gladbach einen 43-Jährigen, der seine Tochter missbraucht haben soll. Seither haben die Ermittler ein Netzwerk aufgedeckt, das zu mehr als 30000 Tatverdächtigen führen könnte. Und schon jetzt ist klar: Das ist
Bergisch Gladbach Die Ermittler brauchen im Oktober vergangenen Jahres nur wenige Versuche, um das Passwort zu knacken, das Jörg L. für seine drei Mobiltelefone benutzt. Es ist das Geburtsdatum seiner Tochter Paula (Name geändert). Das Mädchen ist heute drei Jahre alt. „Meine Kleine“und „der Zwerg“soll Jörg L. sein Kind in den Chats genannt haben, die die Ermittler auf den Handys entdeckten. Es sind Chats, in denen er davon gesprochen haben soll, dass er beim Sex mit seiner Frau an seine Tochter denkt. In denen er sich gewünscht haben soll, dass seine Tochter irgendwann von einem gleichaltrigen Jungen entjungfert wird – und er dabei zusehen kann.
Wenn sich bestätigt, was die Kölner Staatsanwaltschaft dem 43-Jährigen aus Bergisch Gladbach vorwirft, dann lernt Paula erst jetzt eine normale Kindheit kennen. Ihr eigener Vater soll sie ab ihrem dritten Lebensmonat sexuell missbraucht haben, ab vergangenem Sommer fast täglich. Von seiner Ehefrau, der Familie und seinen Freunden unbemerkt – davon gehen die Ermittler aus – führte er offenbar ein Doppelleben. Fürsorglicher Vater und Kinderschänder. All das geht aus der mehr als 100-seitigen Anklageschrift hervor.
Jörg L. gilt als einer der Haupttäter im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach. Als der Mann, durch den dieser Fall erst ins Rollen kam. Obwohl, von einem einfachen „Fall“sprechen die Ermittler längst nicht mehr. Zu groß sind die Dimensionen, zu weitverzweigt ist das Geflecht, das sie nach und nach freilegen. Mehr als 350 Polizisten arbeiteten zu Spitzenzeiten bei der zuständigen „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Berg“, zuletzt waren es um die 140. Eine Einheit in dieser Größenordnung hat es bislang noch nie gegeben. 72 Tatverdächtige und 44 Opfer sind bereits identifiziert.
Was Bergisch Gladbach aber zu einem Komplex macht, der alle bisher bekannten Dimensionen sprengt, hat mit der Zahl zu tun, die Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach am Montag nannte: 30000. Auf so viele Spuren sind die Ermittler gestoßen, so viele potenziell Verdächtige gibt es derzeit. Es handle sich um internationale pädokriminelle Netzwerke mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum, um eine „ganz neue Dimension des Tatgeschehens“, sagte er. Und schob dann hinterher: „Wir müssen erkennen, dass Kindesmissbrauch im Netz weiter verbreitet ist, als wir bisher angenommen haben.“
Jörg L. soll massenhaft kinderpornografische Bilder und Videos besessen, verbreitet und hergestellt haben. Auf seinen Handys und Computern sicherten die Ermittler drei Terabyte Daten. Den Missbrauch seiner Tochter – in der Anklage von 61 Fällen ist die Rede –
er viele Male dokumentiert und seinen Chatpartnern in den pädokriminellen Netzwerken zur Verfügung gestellt haben. Außerdem wird ihm vorgeworfen, zwei zehn bis zwölf Jahre alte Mädchen im Internet vor laufender Kamera zu sexuellen Handlungen gebracht zu haben. Ein Mittäter, der Bundeswehrsoldat Bastian S., hat vor dem Landgericht Kleve bereits gestanden, gemeinsam mit Jörg L. dessen Tochter missbraucht zu haben. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch anderen Männern soll Jörg L. in Aussicht gestellt haben, dass sie Paula missbrauchen dürfen.
Die Welt, in der solche Absprachen getroffen werden, liegt im Internet. In Chatgruppen mit tausenden Teilnehmern, in Foren, in denen sich Pädophile gegenseitig bestärken, in denen sie sich Tipps geben, mit welchen Beruhigungsmitteln man Kinder am besten gefügig machen kann, um sie misshandeln zu können. Christoph Hebbecker kennt diese Welt – gezwungenermaßen. Seit zwei Jahren ist der Staatsanwalt Teil der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime, kurz ZAC NRW. Diese ermittelt bei Hackerangriffen, bei Waffenhandel im Darknet oder, wie in diesem Fall, wenn es um Kinderpornografie geht. Seit diesem Mittwoch arbeitet sie mit einer speziellen Task Force daran, Kindesmissbrauch, der über organisierte Strukturen im Netz abläuft, aufzudecken. Hebbecker sagt: „Wir stehen noch ganz am Anfang.“
Es sind unfassbare Datenmengen, durch die sich die Ermittler arbeiten müssen. Allein der Gruppenchat, in dem Jörg L. verkehrte, hatte 1800 Mitglieder. Auf diese Weise gelangten die Ermittler auch zu den 30 000 Spuren. Nun muss man wissen: 30000 Spuren müssen nicht unbedingt zu genauso vielen Tätern führen. Schließlich kann jeder Verdächtige verschiedene Benutzernamen haben oder sich hinter mehreren IP-Adressen verbergen. Hebbecker stellt aber auch klar: „Selbst diese 30000 werden nur ein Ausschnitt sein. Jedes Mal, wenn wir neue Beschuldigte identifizieren, finden wir neue Chats und neue Bilder.“
Dabei ist es längst nicht nur der Fall Bergisch Gladbach, der bundesweit für Entsetzen gesorgt hat. Immer wieder ist Nordrhein-Westfalen zuletzt von schweren Missbrauchstaten erschüttert worden. Da war der Fall Lügde, wo sich über Jahre auf einem Campingplatz Unvorstellbares abgespielt hat. Das, was Andreas V. und Mario S. den mehr als 30 Kindern zugefügt haben, wird sie wohl ihr Leben lang begleiten, sagte der Richter im September, als er die beiden Männer zu 13 und 12 Jahren Gefängnis verurteilte. Oder der Missbrauchsfall Münster, wo eine Kleingartensiedsoll lung zum Tatort wurde. Jahrelang sollen dort Buben systematisch missbraucht worden sein; Videos der Taten wurden im Darknet angeboten. Von 21 Verdächtigen sitzen mittlerweile elf in Haft, darunter der 27 Jahre alte Hauptverdächtige.
Justizminister Biesenbach ist sich im Klaren, dass all diese Fälle ein seltsames Licht auf das Bundesland werfen. „Lügde, Bergisch Gladbach und Münster sind zum traurigen Synonym für schwerste Straftaten des Kindesmissbrauchs geworden“, sagt der CDU-Politiker. Nur, woran liegt das? Gibt es dort tatsächlich immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie? Oder wird mehr aufgedeckt?
„NRW ist nicht das Land des Bösen“, stellt Biesenbach klar. „Dass hier so viele Fälle bekannt werden, liegt vor allem an dem Ermittlungsaufwand, den wir inzwischen betreiben.“Eine Einschätzung, die auch die Polizeigewerkschaft bestätigt. Fakt ist: Nach dem Fall Lügde hat Innenminister Herbert Reul die Bekämpfung von Kindesmissbrauch zur Chefsache gemacht. Die Personaldecke in diesem Bereich wurde vervierfacht und eine Stabsstelle eingerichtet. Reul gibt eine klare Linie vor: „Wir jagen diese Leute. Wir wollen sie erwischen. In NordrheinWestfalen darf sich keiner, der sich an Kindern vergreift, sicher fühlen.“Nur: Seit die Polizei in Nordrhein-Westfalen verstärkt sucht, findet sie auch deutlich mehr.
Für die Ermittler ist das Sichten der Bilder und Videos belastend, bisweilen unerträglich. Kölns Polizeipräsident Uwe Jacob hat das am Fall Jörg L. deutlich gemacht. Er sprach von Einblicken, „die das Vorstellungsvermögen sprengen“. Mal soll Paula während des Missbrauchs mit einem Schnuller im Mund zu sehen sein, mal trägt sie winzige Kindersocken oder liegt auf einer Decke auf dem Wickeltisch. All das geschah offenbar, ohne dass seine Frau Verdacht schöpfte. Jörg L. soll sein Kind vor allem frühmorgens missbraucht haben, wenn seine Frau schon aus dem Haus war. Er selbst arbeitete als Pförtner in Bergisch Gladbach und brachte Paula offenbar fast immer um 8.30 Uhr in die Kita. Vorher habe er immer „Zeit zum Kuscheln“, soll er sinngemäß in den Pädophilen-Chats geäußert haben.
Im Prozess gegen seinen Chatpartner Bastian S. wurde klar, dass die beiden Männer nicht nur ein sexuelles Verhältnis miteinander hatten, sondern sich auch im Chat über Wochen gegenseitig hochschaukelten in ihren Missbrauchsfantasien. Doch dabei blieb es nicht: S. gestand im Prozess, dass er und Jörg L. Paula in einem Wellnessbad in Essen missbraucht hatten. Drei Monate später hätten sie sich in seiner Wohnung in Kamp-Lintfort getroffen, wo Paula und seine beiden Kinder missbraucht werden sollten. Der Plan scheiterte. Bei einem weiteren Treffen wollten die Männer am ersten November-Wochenende Paula und die Nichte von Bastian S. missbrauchen – Sexspielzeug und Reizwäsche in kleinstmöglicher Größe hatten sie schon besorgt. Auch dazu sagte S. im Prozess aus. Zu dem Treffen an Halloween kam es nicht, weil die Chats der beiden Männer zu diesem Zeitpunkt schon von der Polizei überwacht wurden und die Ermittler sie elf Tage vorher festnahmen.
Es ist genau das, was Staatsanwalt Hebbecker meint, wenn er sagt: „Wir müssen schnell sein.“Denn wenn die Ermittler sich diese Videos und Bilder anschauen, auf denen Kinder missbraucht werden, wenn sie sich durch Chats wühlen, dann mit dem obersten Ziel, dort einzuschreiten, wo Missbrauch nach wie vor stattfindet.
Nach Erkenntnissen der Ermittler soll Jörg L. seit mindestens 20 Jahren Kinderpornos konsumieren und tauschen. Ins Visier der Polizei aber rückte er über Jahre nicht. Er hat keine Vorstrafen. Vermutlich hat er sich auch deshalb sicher gefühlt. In den Chats soll er oft seinen richtigen Namen – und auch den seiner Tochter – genannt haben. Seine Mobiltelefone konnten nicht nur die Ermittler ohne großen Aufwand entsperren. Auch seine Ehefrau hatte offenbar freien Zugang zu seinen Computern und Telefonen, auf die sie per Fingerabdruck zugreifen konnte. Sie scheint ihrem Ehemann blind vertraut zu haben. L. soll ihr einige harmlose Nachrichten
Im Internet bestärken sich Pädophile gegenseitig
NRW ist nicht das Land des Bösen, sagt der Minister
von Bastian S. gezeigt haben, der mit Frau und Kindern auch mal zum Familienbesuch nach Bergisch Gladbach kam. Seinen Chatpartnern sagte L. sinngemäß: „Die Mutter weiß nichts.“Andernfalls würde sie ihn wohl umbringen, soll er geschrieben haben.
Wenn sich Jörg L. ab 10. August vor dem Landgericht Köln verantworten muss, wird seine Frau als Nebenklägerin am Prozess teilnehmen. Ihre Anwältin sagte, noch sei nicht sicher, ob ihre Mandantin den kompletten Prozess verfolge. Sie ist auch als Zeugin geladen.
Nachdem die Polizei im Oktober das Haus der Familie in Bergisch Gladbach erstmals durchsucht hat, soll Jörg L. zu seiner Frau gesagt haben, dass ihm leidtue, was jetzt alles geschehe. Einen Tag später wurde er festgenommen. Das Haus wurde ein zweites Mal durchsucht, auch sein Arbeitsplatz. Und während die Ermittler über die Auswertung der sichergestellten Computer und Mobiltelefone auf das riesige Pädokriminellen-Netzwerk stießen, soll Jörg L.s Frau noch davon ausgegangen sein, dass sich alles klären dürfte und die Familie zusammen Weihnachten feiert.
Auch L.s Umfeld soll ihn als besonders hilfsbereiten Menschen und verantwortungsvollen Vater beschrieben haben. Einer, der immer für die Familie da gewesen sei.