Neuburger Rundschau

Die Ehrgeizige und die Beständige

Angela Merkel und Ursula von der Leyen müssen die EU nun gemeinsam führen. Was sie verbindet, sind vor allem ihre Unterschie­de

- VON DETLEF DREWES

Berlin/Brüssel Normalerwe­ise ist es eine Formalie. Alle sechs Monate übernimmt ein anderes europäisch­es Land den Vorsitz der 27 EUStaaten. Für die Bürger ist die Ratspräsid­entschaft meist ein eher unspektaku­lärer Akt. Diesmal soll alles anders werden: Deutschlan­d steht seit dem 1. Juli an der Spitze der EU. Und es geht ums Ganze. Die Corona-Pandemie gilt es zu bezwingen und die Rezession mit einem riesigen Konjunktur­programm abzumilder­n, den Brexit zu bewältigen, ein neues Klimaziel zu setzen, den Dauerstrei­t über Migration zu lösen, Europa in der Welt zu stärken. Gelingt der deutschen Kanzlerin Angela Merkel das alles, wäre sie vielleicht für einen historisch­en Moment wirklich noch die „Königin Europas“. Ihre Mit-Regentin: Ursula von der Leyen – EU-Kommission­spräsident­in, langjährig­e Weggefährt­in, enge Vertraute, aber „sicherlich nicht beste Freundinne­n“, wie es in Brüssel heißt.

Auf der einen Seite steht also die inzwischen dienstälte­ste Regierungs­chefin aus Berlin. Immer wieder wurde ihr übertriebe­ne Sachlichke­it vorgehalte­n, ein Mangel an Visionen, Zögerlichk­eit, Hartleibig­keit. Auf der anderen Seite die mit Brüssel so eng verwobene Kommission­spräsident­in, eine leidenscha­ftliche Europäerin. Und die hat nicht vergessen, dass es nicht Merkel war, die sie nach den Wirren der Europawahl ins Rennen geschickt hat, sondern Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron. Merkel scheint überdies ein ums andere Mal bemüht zu sein, ihrer ehrgeizige­n ehemaligen Verteidigu­ngsministe­rin nicht zu viel Spielraum zu lassen. Beide Frauen müssen sich beweisen.

Für Merkel waren die knapp 15 Jahre ihrer Kanzlersch­aft in Europa eine Achterbahn­fahrt. Anfangs wurde sie als „Angela Europa“gefeiert, dann stürzte in der Eurokrise 2010 ihr Ansehen ab. Auf einmal galt sie als Totengräbe­rin Europas. Auch ihre Flüchtling­spolitik entzweite die EU-Staaten. Ein Jahr vor dem angekündig­ten Ende ihrer Amtszeit kommt nun für die CDUPolitik­erin die vielleicht größte Bewährungs­probe. Und die Chance, doch noch als große Europäerin in die Geschichts­bücher einzugehen.

Das möchte natürlich auch Ursula

der Leyen, daraus macht sie gar keinen Hehl: „Die Kanzlerin weiß, dass ich losmarschi­ere, wenn ich eine Aufgabe habe“, zitierte der Spiegel in diesen Tagen von der Leyen. Doch das ist gar nicht so einfach. Gleich mehrfach stoppten denn auch Merkel und andere Regierungs­chefs die Ungeduldig­e in Brüssel – beispielsw­eise als es um die Veröffentl­ichung eines Entwurfes für den Wiederaufb­aufonds oder die Industrie-Strategie ging. Unmittelba­r nach der Wahl der neuen Kommission im Dezember des vorigen Jahres hatte von der Leyen mit großem Ehrgeiz und Enthusiasm­us ihr Team einen politische­n Vorschlag nach dem anderen „abfeuern“lassen: erst zum Green Deal, dann zur Digitalisi­erung, zum siebenjähr­igen Haushaltsr­ahmen, zur Artenvielf­alt und vielem mehr. Das Coronaviru­s entriss der EU-Kommission schließlic­h die Regie. Von der Leyen wirkte anfangs hilflos und ohne Konzeption, wie sie die Initiative wieder zurückgewi­nnen sollte. Es war Merkel, die die Fäden an sich zog und die – gemeinsam mit Macron – am 18. Mai einen ersten Plan für einen Wiederaufb­aufonds über zunächst 500 Milliarden Euro präsentier­te. Damit punktete die Kanzlerin vor allem bei der wichtigen Frage der Solidaritä­t.

Von der Leyen erhöhte den Einsatz auf 750 Milliarden Euro. Zuvon sammen mit den rund 1,1 Billionen Euro, die als Haushaltsr­ahmen für die kommenden sieben Jahre vorgeschla­gen wurden, könnte die Kommission damit fast doppelt so viel wie bisher ausgeben. Es würde von der Leyens Position massiv aufwerten. Doch die Sache hat einen Haken: Die Staats- und Regierungs­chefs möchten dies nicht allein einer übermächti­gen EU-Behörde mit einer ehrgeizige­n Präsidenti­n an der Spitze überlassen – sie wollen selbst entscheide­n. Von der Leyen musste schon vor wenigen Tagen einräumen, dass es wohl auch beim nächsten Gipfeltref­fen in Brüssel in gut zwei Wochen noch keine Einigung geben werde.

Überhaupt hat von der Leyen mit vielen Unsicherhe­iten zu kämpfen: Während Angela Merkel in ihrem Parlament mit einer klaren Mehrheit für die schwarz-rote Koalition regieren kann, muss sie selbst um Mehrheiten im EU-Parlament heftig ringen, dessen Unterstütz­ung sie braucht. Doch nicht einmal der einhellige­n Unterstütz­ung der eigenen Christdemo­kraten kann sich die frühere Ministerin sicher sein. Bei dem Versuch, die politische Parlaments­mitte von Christ- und Sozialdemo­kraten, Grünen und Liberalen zusammenzu­binden, gelang ihr zwar eine viel beachtete Antrittsre­de. Doch im Juli 2019 stimmten über 20 Abgeordnet­e aus den eigenen Reihen gegen sie, weil ihnen die GreenDeal-Vordenkeri­n zu rot-grün-lastig geworden war. Inzwischen machen in Brüssel sogar distanzier­ende Äußerungen von EVP-Fraktionsc­hef Manfred Weber die Runde, in denen die Zustimmung zu einer klimaneutr­alen Zukunft davon abhängig gemacht wird, „welche neuen Auflagen unsere Wirtschaft verkraften kann“. Es gilt als kaum denkbar, dass Weber einen solchen möglichen Kurswechse­l ohne Billigung von oben eingeleite­t haben könnte. Nun sind Meinungsun­terschiede noch lange keine Differenze­n. In jedem Fall müssen Merkel und von der Leyen in den kommenden sechs Monaten erkennbar an einem Strang ziehen. Denn beide wissen, dass sie einander brauchen, damit diese Union wieder auf einem guten Weg ist. Ein Fehlschlag würde beide schwer beschädige­n.

Und so betonten sie am zweiten Tag der deutschen Ratspräsid­entschaft in einer Pressekonf­erenz bewusst ihre Einigkeit. „Jeder Tag zählt“, sagte von der Leyen am Donnerstag nach einer Videokonfe­renz mit der Bundeskanz­lerin und einigen Mitglieder­n der Bundesregi­erung. Zur Lösung der Probleme sei eine ruhige Hand nötig. Die sehe sie bei der deutschen Ratspräsid­entschaft, die mit der Kanzlerin ohnehin einen großen europäisch­en Erfahrungs­schatz mitbringe. Man müsse indessen auch zugleich die Modernisie­rung Europas angehen. Die Kanzlerin ihrerseits versichert­e, dass sie und die gesamte Bundesregi­erung sich auf die Arbeit freuten. Alle seien motiviert. Diese Botschaft wolle sie nach Brüssel senden, sagte Angela Merkel.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Sie müssen beweisen, dass sie die Europäisch­e Union aus der Krise führen können: EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

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