Neuburger Rundschau

Gefährlich schreckhaf­t

18 Kühe stürzen im Allgäu hunderte Meter in die Tiefe – weil ein Dauerläufe­r sie in der Nacht erschreckt hatte. Die Angst der Rinder macht sich ein neuer Internettr­end zunutze

- VON MARIA HEINRICH

Immenstadt Urlaub zu Hause, Ausflüge in die bayerische­n Berge, Wandern, Radfahren, Campen – alle diese Aktivitäte­n sind bei den Menschen im Freistaat gerade besonders beliebt. Was gibt es momentan auch Schöneres, als die Aussicht von einem Gipfel zu genießen oder in der Natur die Gedanken schweifen zu lassen, um ein wenig Abstand von der Corona-Krise zu bekommen? Den Ansturm an Menschen beobachten einzelne Gemeinden, Naturschüt­zer und nun auch Landwirte mittlerwei­le aber mit Sorge. So groß die Erholung der Ausflügler zwar ist – so groß ist auch der Stress für viele Kühe, die auf den Berghängen grasen und oftmals auf den Weiden von den Menschen gestört werden.

Erst vor wenigen Tagen endete im Oberallgäu ein Aufeinande­rtreffen zwischen einem Bergläufer und einer Rinderherd­e tragisch. Unterhalb des Immenstädt­er Horns schreckte der Mann in der Nacht 18 Jungrinder mit seiner Stirnlampe auf. Die Herde geriet in Panik, durchbrach den Weidezaun und stürzte einen Steilhang herunter – einige Tiere fielen bis zu 300 Meter in die Tiefe. Zwei Kühe verendeten, eine wurde schwer und die anderen leicht verletzt. Genauso gefährlich kann es aber auch schnell für Wanderer werden, wenn Menschen und Rinder in den Bergen aufeinande­rtreffen. Mitte Juni attackiert­e eine Mutterkuh auf einer Weide am Vilsalpsee im Tannheimer Tal eine 37-Jährige. Die Frau erlitt schwere Verletzung­en und wurde mit dem Hubschraub­er ins Krankenhau­s gebracht. Nur kurze Zeit später durchquert­en zwei Familien dasselbe Weidegebie­t. Mehrere Kühe liefen auf sie zu, ein 48-Jähriger und ein vier Jahre altes Mädchen wurden umgestoßen und verletzt. Wie gefährlich solche Kuh-Attacken sein können, zeigt auch ein Fall aus dem Jahr 2014. Damals starb eine 45-jährige Wanderin im Stubaital. Sie wurde von einer Kuhherde zu Tode getrampelt.

Auf der einen Seite sind Kühe also schreckhaf­te Tiere, auf der anderen Seite können sie durchaus aggressiv werden und die Konfrontat­ion mit dem Menschen suchen – doch warum ist das so? Eine Antwort darauf hat Rolf Mansfeld, Professor an der Tiermedizi­nischen Fakultät der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München und an der Klinik für Wiederkäue­r in Oberschlei­ßheim. Er sagt: „Rinder sind von Natur aus nicht ungefährli­ch. Aber je nach

Rasse und Haltung können sie relativ friedlich sein.“Die Milchkuh zum Beispiel, der man beim Wandern in den Bergen häufig begegnet, bleibe beim Zusammentr­effen mit dem Menschen meist friedlich, weil sie den Kontakt gewöhnt ist. „Allerdings sind Rinder auch Fluchttier­e. Wenn sie erschrecke­n, können sie trotz ihrer 700 Kilogramm durchaus Gas geben. Und wenn sie sich bedrängt oder bedroht fühlen, dann muss man damit rechnen, dass sie auch mal angreifen können.“

Das könne man auch als Laie gut an verschiede­nen Verhaltens­weisen der Kuh ablesen, sagt der Veterinär aus München. Zum Beispiel daran, dass die Kuh den Kopf senkt, laut schnauft oder mit den Klauen zu scharren beginnt. „Das sind klare Drohgebärd­en. Dann sollte man möglichst ruhig und auf keinen Fall hektisch den Rückzug antreten“, sagt Mansfeld.

Besondere Vorsicht sei bei Mutteroder Ammenkühen geboten, die auf den Weiden zusammen mit ihren Kälbern stehen, sagt Mansfeld. „Sie sind nett anzusehen, aber bei ihnen muss man besonders vorsichtig sein. Denn oft hätten sie viel weniger Kontakt zu Menschen und würden schnell ihre Kälbchen verteidige­n.“

Abstand halten und Rücksicht nehmen – das ist für Rolf Mansfeld das oberste Gebot. Denn viele Wanderwege führen nun mal mitten durch Viehweiden hindurch. Weil momentan zum Teil hunderte Wanderer pro Tag an den Herden vorbeiging­en, vermuten Landwirte und Alpenbesit­zer, dass dieser Ansturm die Tiere unter Druck setzt. „Die Leute müssen sich bewusst sein, dass sie mit der Weide sozusagen das Wohnzimmer der Rinder betreten“, sagte Michael Honisch, Geschäftsf­ührer des Alpwirtsch­aftlichen Vereins Allgäu.

Umso größer ist das Unverständ­nis über einen aktuellen Trend in den sozialen Netzwerken: Bei der sogenannte­n „Kulikitaka-Challenge“filmen sich Menschen dabei, wie sie Kühe und andere Tiere erschrecke­n, die daraufhin panisch davonlaufe­n – und stellen diese Videos ins Internet. Ein Sprecher des Bayerische­n Bauernverb­andes sagt dazu: „Hier werden unnötig Risiken für Mensch und Tier in Kauf genommen, nur um Klicks und Aufmerksam­keit zu erzielen. Das ist falsch und unverantwo­rtlich!“Genauso sieht das auch Veterinär Rolf Mansfeld. „Da brauchen wir gar nicht drüber reden. Das ist für mich Tierquäler­ei.“

 ?? Foto: Lino Mirgeler, dpa ?? Kühe gelten eigentlich als sehr friedliche Tiere. Aber wenn sie erschreckt werden oder sich von Wanderern oder Hundebesit­zern auf ihrer Weide bedroht fühlen, können sie auch Menschen angreifen.
Foto: Lino Mirgeler, dpa Kühe gelten eigentlich als sehr friedliche Tiere. Aber wenn sie erschreckt werden oder sich von Wanderern oder Hundebesit­zern auf ihrer Weide bedroht fühlen, können sie auch Menschen angreifen.

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