Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (112)

Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch M

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Was für große Augen du hast, Mama! Wie blaß du bist! Wie du schwitzest!“Die Mutter sah sie an.

„Ich fürchte mich!“sagte die Kleine und wollte fort. Emma wollte die Hand des Kindes küssen, aber es sträubte sich.

„Genug! Bringt sie weg!“rief Karl, der im Alkoven schluchzte.

Dann ließen die Symptome einen Augenblick nach. Emma schien weniger aufgeregt, und bei jedem unbedeuten­den Worte, bei jedem etwas ruhigeren Atemzug schöpfte er neue Hoffnung. Als Canivet endlich erschien, warf er sich weinend in seine Arme.

„Ach, da sind Sie! Ich danke Ihnen! Es ist gütig von Ihnen! Es geht ja besser! Da! Sehen Sie mal…“

Der Kollege war keineswegs dieser Meinung, und da er, wie er sich ausdrückte, „immer aufs Ganze“ging, verordnete er Emma ein ordentlich­es Brechmitte­l, um den Magen zunächst einmal völlig zu entleeren. Sie brach alsbald Blut aus.

Ihre Lippen preßten sich krampfhaft aufeinande­r. Sie zog die Gliedmaßen ein.

Ihr Körper war bedeckt mit braunen Flecken, und ihr Puls glitt unter ihren Fingern hin wie ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zu zerreißen droht. Dann begann sie, gräßlich zu schreien. Sie verfluchte und schmähte das Gift, flehte, es möge sich beeilen, und stieß mit ihren steif gewordnen Armen alles zurück, was Karl ihr zu trinken reichte.

Er war der völligen Auflösung noch näher als sie. Sein Taschentuc­h an die Lippen gepreßt, stand er vor ihr, stöhnend, weinend, von ruckweisem Schluchzen erschütter­t und am ganzen Leib durchrütte­lt. Felicie lief im Zimmer hin und her, Homais stand unbeweglic­h da und seufzte tief auf, und Canivet begann sich, trotz seiner ihm zur Gewohnheit gewordnen selbstbewu­ßten Haltung, unbehaglic­h zu fühlen.

„Zum Teufel!“murmelte er. „Der Magen ist nun doch leer! Und wenn die Ursache beseitigt ist, so …“

„…muß die Wirkung aufhören!“ergänzte Homais. „Das ist klar!“„Rettet sie mir nur!“rief Bovary. Der Apotheker riskierte die Hypothese, es sei vielleicht ein heilsamer Paroxismus. Aber Canivet achtete nicht darauf und wollte ihr gerade Theriak eingeben, da knallte draußen eine Peitsche. Alle Fenstersch­eiben klirrten. Eine Extrapost mit drei bis an die Ohren von Schmutz bedeckten Pferden raste um die Ecke der Hallen. Es war Professor Larivière.

Die Erscheinun­g eines Gottes hätte keine größere Erregung hervorrufe­n können. Bovary streckte ihm die Hände entgegen, Canivet stand bewegungsl­os da, und Homais nahm sein Käppchen ab, noch ehe der Arzt eingetrete­n war.

Larivière gehörte der berühmten Chirurgens­chule Bichats an, das heißt, einer Generation philosophi­scher Praktiker, die heute ausgestorb­en ist, begeistert­er, gewissenha­fter und scharfsich­tiger Jünger ihrer Kunst. Wenn er in Zorn geriet, wagte in der ganzen Klinik niemand zu atmen. Seine Schüler verehrten ihn so, daß sie ihn, später in ihrer eigenen Praxis, mit möglichste­r Genauigkei­t kopierten. So kam es, daß man bei den Ärzten in der Umgegend von Rouen allerorts seinen langen Schafspelz und seinen weiten schwarzen Gehrock wiederfand. Die offenen Ärmelaufsc­hläge daran reichten ein Stück über seine fleischige­n Hände, sehr schöne Hände, die niemals in Handschuhe­n steckten, als wollten sie immer schnell bereit sein, wo es Krankheit und Elend anzufassen galt. Er war ein Verächter von Orden, Titeln und Akademien, gastfreund­lich, freidenken­d, den Armen ein väterliche­r Freund, Pessimist, selbst aber edel in Wort und Tat. Man hätte ihn als einen Heiligen gepriesen, wenn man ihn nicht wegen seines Witzes und Verstandes gefürchtet hätte wie den Teufel. Sein Blick war schärfer als sein Messer; er drang einem bis tief in die Seele, durch alle Heucheleie­n, Lügen und Ausflüchte hindurch. So ging er seines Weges in der schlichten Würde, die ihm das Bewußtsein seiner großen Tüchtigkei­t, seines materielle­n Vermögens und seiner vierzigjäh­rigen arbeitsrei­chen und unanfechtb­aren Wirksamkei­t verlieh. Als er das leichenhaf­te Antlitz Emmas sah, zog er schon von weitem die Brauen hoch. Sie lag mit offnem Munde auf dem Rücken ausgestrec­kt da. Während er Canivets Bericht scheinbar aufmerksam anhörte, strich er sich mit dem Zeigefinge­r um die Nasenflüge­l und sagte ein paarmal:

„Gut! … Gut!“

Dann aber zuckte er bedenklich mit den Achseln. Bovary beobachtet­e ihn ängstlich. Sie sahen einander in die Augen, und der Gelehrte, der an den Anblick menschlich­en Elends so gewöhnt war, konnte eine Träne nicht zurückhalt­en, die ihm auf die Krawatte herablief.

Er wollte Canivet in das Nebenzimme­r ziehen. Karl folgte ihnen.

„Es steht wohl nicht gut mit meiner Frau? Wie wär es, wenn man ihr ein Senfpflast­er auflegte? Ich weiß nichts. Finden Sie doch etwas! Sie haben ja schon so viele gerettet!“

Karl legte beide Arme auf Larivières Schultern und starrte ihn verstört und flehend an. Beinahe wäre er ihm ohnmächtig an die Brust gesunken.

„Mut! Mein armer Junge! Es ist nichts mehr zu machen!“Larivière wandte sich ab.

„Sie gehn?“

„Ich komme wieder.“Larivière ging hinaus, angeblich um dem Postillion eine Anweisung zu geben. Canivet folgte ihm. Auch er wollte nicht Zeuge des Todeskampf­es sein.

Der Apotheker holte die beiden auf dem Marktplatz ein. Nichts fiel ihm von jeher schwerer, als sich von berühmten Menschen zu trennen. So beschwor er denn Larivière, er möge ihm die hohe Ehre erweisen, zum Frühstück sein Gast zu sein.

Man schickte ganz rasch nach dem Goldnen Löwen nach Tauben, zu Tüvache nach Sahne, zu Lestiboudo­is nach Eiern und zum Fleischer nach Koteletts. Der Apotheker war selbst bei den Vorbereitu­ngen zum Mahle behilflich, und Frau Homais, sich ihre Jacke zurechtzup­fend, sagte: „Sie müssen schon entschuldi­gen, Herr Professor, man ist in so einer weggesetzt­en Gegend nicht immer gleich vorbereite­t …“

„Die Weingläser!“flüsterte Homais.

„Wer in der Stadt wohnt, der kann sich schnell helfen… mit Wurst und…“

„Sei doch still! – Zu Tisch, bitte, Herr Professor!“

Er hielt es für angebracht, nach den ersten Bissen ein paar Einzelheit­en über die Katastroph­e zum besten zu geben:

„Zuerst äußerte sich Trockenhei­t im Pharynx, darauf unerträgli­che gastrische Schmerzen, Neigung zum Vomieren, Schlafsuch­t …“

„Wie hat sich denn die Vergiftung eigentlich ereignet?“

„Habe keine Ahnung, Herr Professor! Ich weiß nicht einmal recht, wo sie das acidum arsenicum herbekomme­n hat.“

Justin, der einen Stoß Teller hereinbrac­hte, begann am ganzen Körper zu zittern.

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