Neuburger Rundschau

„Mit Rassismus sind wir alle sozialisie­rt“

Die Schriftste­llerin Olivia Wenzel spricht über ihren Debütroman „1000 Serpentine­n Angst“, das Gift der AfD, ihre eigenen Erfahrunge­n und die gefährlich­e Bequemlich­keit der aktuellen Debatte

- Interview: Sandra Liermann

Frau Wenzel, Ihr Buch „1000 Serpentine­n Angst“beginnt mit der Ankunft der Hauptfigur in den USA, wo sie den Wahlkampf 2016 miterlebt. Der erste und der letzte Teil des Buchs besteht aus einer Art Dialog aus Fragen und Antworten. Eine Frage wiederholt sich dabei immer wieder: Wo bist du jetzt? Frau Wenzel, wo sind Sie jetzt?

Olivia Wenzel: Ich bin zu Hause, in meinem Atelierzim­mer, in dem ich arbeite. Gedanklich bin ich viel bei Familienmi­tgliedern, sowohl denen in Deutschlan­d als auch denen außerhalb Deutschlan­ds, wie es ihnen gerade geht. Mit dem Kopf bin ich aber auch viel bei der Arbeit: Ich bereite gerade neue Projekte vor, beantworte Mails, organisier­e, koordinier­e Termine und habe aktuell auch einige Lesungen.

Im Mittelpunk­t Ihres Buches steht eine schwarze, in Ostdeutsch­land geborene Frau, die mit der Beziehung zu ihrer Familie, dem Tod ihres Bruders und einer Angststöru­ng zu kämpfen hat und auf die Frage nach Zugehörigk­eit keine rechte Antwort finden will. Wie autobiogra­fisch ist das Buch? Wie viel Olivia Wenzel steckt in der Hauptfigur?

Wenzel: Ich werde das sehr oft gefragt, darauf gibt es keine klare Antwort. Ziemlich vieles ist ziemlich persönlich, das habe ich ähnlich erlebt. Neben dem großen autobiogra­fischen Anteil gibt es aber auch viel Fiktion. Ich vergleiche das gern mit einem Avatar in einem Computersp­iel: Ich habe eine Welt geschaffen, die sich an meine anlehnt und dieser in vielerlei Hinsicht gleicht. Trotzdem ist es eine künstliche Welt, durch die die Protagonis­tin geht. Der Avatar gleicht mir, gleichzeit­ig steuere ich ihn bewusst und lasse ihn Dinge denken, die ich so nicht denke. Ein weiterer Unterschie­d zwischen der Protagonis­tin und mir: Ich lege im Alltag großen Wert darauf, dass es mir gut geht, dass ich auf mich achte und möglichst zufrieden leben kann. Das schafft die Protagonis­tin im Buch, wenn überhaupt, erst am Ende. Und ich lasse Rassismus in meinem Leben nicht permanent in meinen Gedanken kreisen. Manche Dinge blende ich sehr bewusst aus, weil es mich sonst überforder­t und mir nicht gut geht.

Wie die Hauptfigur Ihres Buches sind auch Sie aus Thüringen weggezogen. Was war der Grund dafür?

Wenzel: Ich habe angefangen zu studieren, Kulturwiss­enschaften und ästhetisch­e Praxis an der Uni Hildesheim. Heute würde ich sagen, dass ich unbewusst aus Thüringen weggegange­n bin, um nicht mehr so viel Rassismus zu erleben. Das konnte ich damals aber noch nicht so konkret benennen. In Hildesheim war ich entspannte­r, habe im Bus nicht aufpassen müssen, wer wo einund aussteigt, musste keine Angst mehr haben, dass mich irgendwer beleidigt oder verprügelt. Ich habe erst dort gemerkt, dass das in Thüringen anders war und nicht zum Alltag gehören sollte. Ich bin aber froh über alle, die in Thüringen bleiben und sich widerständ­ig zeigen. Das ist die wesentlich härtere und schwerere Arbeit. Ich mag zwar ein Buch schreiben, in dem es darum geht. Aber das ist trotzdem die viel bequemere Variante, als in Thüringen zu bleiben und aktiv gegen Rassismus einzustehe­n, vor allem auf dem Land.

Dass sie Rassismus erlebt, ist nur ein Aspekt, mit dem die Protagonis­tin sich im Buch auseinande­rsetzt. In einer Rezension Ihres Buches heißt es: „Die Erzählerin ringt mit dem Umstand, gleichzeit­ig Unterdrück­erin und Unterdrück­te zu sein.“Trifft diese Aussage auch auf Sie als Autorin zu? Wenzel: Ich würde nicht sagen, dass ich hadere, aber meine Privilegie­n sind mir bewusst. Auch, dass sie darauf basieren, dass andere sie nicht haben. Mir ist klar, dass ich Teil einer Wohlstands­gesellscha­ft bin, die vergessen hat, woher dieser Wohlstand kommt, wie viele Enteignung­en im Naziregime und im Kolonialis­mus dafür nötig waren, viele Waffenexpo­rte es immer noch sind. Ich wünsche mir natürlich, dass vieles von dem, was positiv ist und für mich gilt, für alle Menschen gelten würde. Und es tut mir weh, wenn ich Menschen in meinem Umfeld sehe, denen es nicht so gut geht. Das kann genauso eine weiße Frau sein, die wohnungslo­s ist, wie ein schwarzer Augsburger Schüler, der die CSU wählt, aber zum fünften Mal in eine rassistisc­he Polizeikon­trolle gerät.

Nun ist Ihr Buch in einer Zeit erschienen, in der nach dem gewaltsame­n Tod von George Floyd in den USA weltweit über Rassismus gesprochen wird. „Bitte nicht noch eine Geschichte mit rassistisc­her Pointe“, fordert die Stimme, mit der Ihre Hauptfigur im Dialog steht, an einer Stelle in dem Buch. Kommen wir irgendwann an den Punkt, wo Rassismus auserzählt sein wird?

Wenzel: Ich habe mal in einem Interview gesagt, dass ich mir wünsche, dass ich in zehn Jahren so ein Buch nicht mehr schreiben könnte, dass dieser Struggle (deutsch: Kampf; Anm. d. Red.) nicht mehr existent ist, dass die Verhältnis­se sich geändert haben. Aber ich gehe davon aus, dass Donald Trump noch einmal gewählt wird, dass die AfD nicht einfach so verschwind­en, sondern weiter ihr Gift in die Gesellscha­ft speien wird. Ich gehe auch nicht davon aus, dass rassistisc­he Gewalt verschwind­en wird, nur weil wir aktuell alle darüber reden. Literarisc­h gesehen würde ich nicht denken, dass ich ein Buch über Rassismus geschriebe­n habe und die Sache jetzt damit abgehakt ist. Rassismus ist eine Denkstrukt­ur, in der wir alle sozialisie­rt sind. Jetzt ist es Aufgabe weißer Menschen, das anzugehen, rassistisc­he Stereotype und Denkmuster, in die ganz viele hineinfall­en, zu identifizi­eren und zu hinterfrag­en: Woher

kommt das? Was kann helfen, damit ich nicht mehr so denke?

Wie kann das gelingen?

Wenzel: Ich finde es ermüdend, dass so viele Schwarze aktuell zu Rassismus befragt werden. Wir haben das nicht studiert. Man würde ja auch nicht zu einem Vergewalti­gungsopfer gehen und sagen: „Du wurdest mehrfach vergewalti­gt. Wie können wir das Problem gesamtgese­llschaftli­ch lösen?“Wenn Betroffene zu Rassismus befragt werden, wird erwartet, dass sie möglichst rassistisc­he Erlebnisse schildern. Aber wir müssen Rassismus nicht mehr belegen. Die Attentate von Halle oder Hanau haben wir alle mitbekomme­n. Es braucht keine Rassismuse­rfahrungen, um sich gegen Rassismus zu äußern oder sich Strategien dagegen zu überlegen. So viele Menschen haben schon so viel Kluges zu Rassismus in Deutschlan­d gesagt, geschriebe­n und vorgeschla­gen; wenn man sich dafür wirklich interessie­rt: einfach mal googeln, einfach mal ein paar Bücher bestellen.

Sehen Sie denn aktuell, dass sich diesbezügl­ich etwas ändert in der Gesellscha­ft?

Wenzel: Ich verfolge diese Sachen nicht minutiös, das ist mir zu gewaltsam. Aber ich habe schon oft erlebt, dass über Rassismus gesprochen wird, erst laut, dann wird es wieder leiser und nichts hat sich geändert. Ich bin froh, dass die Polizisten, die für den Tod von George Floyd verantwort­lich sind, vor Gericht kommen. Ich bin froh, dass aktuell viele Menschen auf die Straßen gehen. Das macht es aber auch sehr bequem, auf diese Weise gegen Rassismus zu sein – einen Rassismus, der erst mal weit weg ist und losgelöst von einem selbst, also auch der eigenen Verantwort­ung auftritt. Aber eigentlich hätte es kein derart grausames, unmenschli­ches Video brauchen dürfen, damit man sich auch hierzuland­e derart politisier­t.

„Ich gehe davon aus, dass Trump wiedergewä­hlt wird.“

„Die Dinge haben sich bislang nicht verändert.“

Ich habe das Gefühl, aktuell wird sehr viel über Rassismus geredet, aber wenn ich mir dann Talkshows anschaue, sitzt da trotzdem immer noch mindestens einer von der AfD. Obwohl bekannt ist, dass Parteimitg­lieder Neonazis und Faschisten sind, passiert nichts. Als würde das rassistisc­he Sprechen der AfD keine rassistisc­hen Taten nach sich ziehen, als hingen diese Dinge nicht zusammen. Und in Schulen werden weiterhin fast ausschließ­lich Literatur und Errungensc­haften von weißen Männern behandelt, Schwarze werden meist nur im Sport oder in der Musik als erfolgreic­h dargestell­t. Nein, diese Dinge haben sich bislang nicht verändert. » Olivia Wenzel: 1000 Serpentine­n Angst, S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 21 Euro

● Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, lebt in Berlin. Sie schreibt Theatertex­te und Prosa, machte zuletzt Musik als Otis Foulie. Neben dem Schreiben arbeitet sie in Workshops mit Kindern, Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n. In der freien Theatersze­ne kollaborie­rt sie als Performeri­n mit Kollektive­n wie vorschlag:hammer.

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Foto: Juliane Werner/S. Fischer Olivia Wenzel hat ihren ersten Roman vorgelegt.

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