Tanzen verboten!
Deutschlands Großstädte sind für ihre Clubs berühmt. Und Diskotheken auf dem Land bieten oft die einzige Chance zum Feiern weit und breit. So war das zumindest einmal. Jetzt ist das Nachtleben auf Pause. Wird die Clubkultur das Virus überleben?
Augsburg/Untermeitingen Der Bass lässt den Brustkorb vibrieren. Er teilt die Nacht in Abschnitte, wie ein Herzschlag. Nebel wabert über die Tanzfläche, Körper drängen sich in der Schwüle des Clubs aneinander. Der DJ dreht kurz den Bass raus, hält für ein paar Sekunden die Zeit an. Die Clubbesucher recken die Hände in die Luft, sie wissen: Gleich kommt die Ekstase. Die Regler gehen wieder Richtung Anschlag. Der Bass ist zurück. Ein Moment wie eine Droge.
Stefan Egger schaltet die Lichtanlage ein. Tausend Mal hat er das gemacht. Die Discokugeln werfen Leuchtkreise in den Raum. Aber sie beleuchten diesmal keine Gesichter, nur ein paar schwarz eingetrocknete Kaugummis auf der Tanzfläche. Egger betreibt das PM in Untermeitingen (Kreis Augsburg), das in den 22 Jahren seit seiner Eröffnung eine der größten Diskotheken Bayerns geworden ist. 67 Mitarbeiter, acht feste, zwei Azubis. 2490 Quadratmeter, mehrere Tanzflächen. In Partynächten feiern hier rund 2000 Leute. Doch seit fast vier Monaten war niemand mehr da.
Clubs und Bars waren die Ersten, die im März wegen Corona schließen mussten. Köln, Heidelberg, Frankfurt: Überall haben Clubbetreiber aufgegeben. In Berlin – Herz der elektronischen Musikszene, Wahlheimat der bekanntesten Techno-Produzenten und legendär für seine Clubs – fehlt das Wummern, das in den Gedanken Millionen junger Berlin-Touristen zur Stadt gehört wie die Überbleibsel der Mauer und der Fernsehturm. Im weltbekannten Club Berghain läuft gerade höchstens mal ein bisschen Musik im Biergarten. Doch die Schlange am Einlass, oft länger als die vor der Reichstagskuppel, ist seit Monaten weg. Und die Clubs werden wohl auch die Letzten sein, die wieder öffnen dürfen.
„Das ist definitiv die härteste Zeit, die ich beruflich je durchgemacht habe“, sagt PM-Chef Egger. Obwohl der 54-Jährige seit mehr als einem halben Leben die Nacht zum Tag macht, sieht er viel jünger aus und hat die Energie einer menschengroßen Dose Red Bull. Jetzt sitzt er in seinem Büro mitten im dessen Tür in der Dunkelheit der Nacht nicht zu erkennen wäre. An der Wand hängen Plakate. Jedes ist mit einer Erinnerung verbunden. Wie die junge Lady Gaga 2009 mit ihrem ersten Album hier spielte. Wie er mit einem Geldkoffer am Münchner Flughafen stand, weil der US-Rapper Snoop Dogg einen Teil seiner Gage in bar wollte. Eggers Problem ist nur: Seit Anfang März kam keine einzige Erinnerung dazu.
Wann die Leute wieder tanzen dürfen? Es gibt keine Prognose. Gerade hat es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im Interview mit unserer Redaktion wieder bestätigt: „Das dauert. Denn da ist die Ansteckungsgefahr einfach mit am höchsten.“Als Ersatz empfahl
Söder, zu Hause mit der Partnerin oder dem Partner zu tanzen. Der PM-Besitzer hat den Satz auch gehört und auf Twitter mit einem Emoji kommentiert, das die Hände vors Gesicht schlägt. Viele Clubbetreiber fühlten sich durch die Bemerkung sogar verhöhnt.
Ohne Clubs hätte die Musikkultur keine Heimat. Und gerade die großen Läden in den Metropolen sind ein Tourismusfaktor: Um die Technoszene in Berlin zu erleben, kommen Fans aus der ganzen Welt, ins PM immerhin aus ganz Bayern. Einer Studie der Berliner Interessensvertretung Clubkommission zufolge erwirtschafteten die Diskotheken in der Hauptstadt allein 2018 fast 1,5 Milliarden Euro. Rund ein Viertel der jährlich 13 Millionen Touristen kommt, um die Nächte durchzufeiern. Wo die Party bisher höchstens am ebenso tätowierten wie berüchtigten Türsteher des Berghain scheiterte, liegt die Szene gerade so brach wie das ehemalige Heizkraftwerk, in welchem der bekannteste Technoclub der Welt vor über 20 Jahren eröffnete. Spätestens als das Berghain Anfang März freiwillig seine Türen schloss, war die Branche in Angst. Doch lange kümmerte das niemanden. Dabei hatten es die Clubs schon vor dem Virus nicht leicht. Steigende Mieten in den Großstädten, Wohnbebauung statt Freiflächen, schwindende Geburtenzahlen: Viele Läden sind chronisch gefährdet. Allein in Berlin sollen in den letzten zehn Jahren 100 zugemacht haben. Auch schwäbische Großraumdiskotheken wie das Tropicana in Friedberg oder die Nachtmeile Lauingen schlossen, weil kaum mehr jemand tanzte.
Stefan Egger sperrt sein PM an den Öffnungstagen abends um 18 Uhr auf und morgens um acht wieder zu. Während draußen die Gäste feiern, arbeitet Egger in seinem Büro, manchmal trägt er Hausschuhe. „Ich habe dreimal das unternehmerische Risiko“, sagt er. Nicht nur als Clubbetreiber, sondern auch als Konzertveranstalter und als DJ. „Und dreimal gingen meine Einnahmen von 100 auf null“, erzählt der 54-Jährige.
XXL-Party mit großem BierPong-Turnier. 1-Euro-Party mit Schnäpsen, kaum teurer als daheim aus der Flasche und 100-Euro-GutClub, schein für den, der nackt durch den Club rennt – das war einmal. Besonders die Partys fehlen: „Mit Konzerten machst du deinen Namen bekannt, mit normalen Partys verdienst du dein Geld“, erklärt Egger. Existenzangst habe er nicht: „Wir hatten viele gute Jahre, haben gut gewirtschaftet.“Doch auch das PM hat in den letzten drei Monaten mehr als 60 000 Euro verloren.
Kira Kosnick, Professorin für vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Frankfurt/Oder, beobachtet die Clubszene seit Jahren. Sie weiß: Diskotheken sind mehr als nur ihre Tanzfläche. „Subkulturen und gesellschaftliche Minderheiten“fänden dort ihren Platz. Man ist Teil einer Szene – Punk, Hip-Hop, K-Pop, alles hat seinen Ort. Homosexuelle, die queere Szene also, haben ihre eigenen Partys. Besonders für sie wäre ein Schwinden der Clubs fatal. „Für Menschen, die in anderen Kontexten von der Öffentlichkeit ausgegrenzt werden und Gewalterfahrungen machen, haben diese Räume auch eine Schutzfunktion“, sagt Kosnick. Für sie sei das Nachtleben „ein wichtiger Ort der Vernetzung, Politisierung (...) Da geht es um mehr als ums Feiern.“
Das ist seit Generationen so. Nicht zufällig fanden die StonewallRiots 1969 in einem Nachtclub statt. Damals, am frühen Morgen des 28. Juni in New York, hatten sich Schwule, Lesben und Transgender gegen eine brutale Polizeirazzia im Stonewall Inn gewehrt. Die Bar lag in der New Yorker Christopher Street. Heute feiern Homosexuelle den Aufstand jedes Jahr am Christopher-Street-Day – als Auftakt zu einer Befreiungsbewegung, die in manchen Ländern, in Welten ohne Clubkultur, gerade erst anfängt.
„Ein Club bedeutet Freiheit“, so fasst es Sebastian Karner, Betreiber der Kantine in Augsburg, zusammen. „Ein Raum für junge Menschen, der nicht so beobachtet ist. Ein Raum, in dem sie bis morgens um fünf tanzen und sich ausprobieren können.“Karner kämpft seit fast vier Monaten um seine Läden. Drei sind es insgesamt, nur sein Café Beim Weißen Lamm in der Innenstadt läuft wieder. Karner hat mit anderen Augsburger Bar- und Clubbetreibern einen Internetkanal aufgebaut, in dem DJ-Sets und Konzerte
live in die Wohnzimmer übertragen wurden. Gegen die Entzugserscheinungen und gegen Spenden für die Clubszene.
Vergangenes Jahr ist der 45-Jährige mit der Kantine an den Augsburger Königsplatz umgezogen, weil schicke Neubauten sie vom alten Ort verdrängt hatten. Mitte März 2019 war die Neueröffnung. Genau ein Jahr später kam Corona. Seine sieben festen Mitarbeiter sind zu 100 Prozent in Kurzarbeit. Für die 70 Helfer an der Bar oder am Einlass gibt es die Förderung nicht. „Sie sind auch voll betroffen.“Karner hat Glück, dass seine Vermieter die Miete stunden. „Sonst hätten wir keine Chance.“Die Kantine war immer ein Liveclub, oft für junge, unbekannte Bands. Die österreichische Popgruppe Bilderbuch zum Beispiel, die heute auf den größten Festivals spielt, tingelte einst durch schwäbische Jugendzentren und kleinere Spielstätten wie die Kantine. Für Veranstalter seien „solche Geschichten“immer „ein Stück weit Selbstausbeutung“, sagt Karner – auch ohne Virus. „Ein bis zwei Prozent Rendite“brächten Liveclubs im Schnitt pro Jahr. Jetzt verbringt Karner seine Tage damit, Konzerte zu verschieben, manche schon zum dritten Mal. Durch das „Berufsverbot“fehlt ihm die Struktur, eine echte Perspektive – und die Ungewissheit zerrt an den Nerven. „Es fällt mir in den letzten Wochen nicht immer leicht, mit der nötigen Motivation ins Büro zu gehen. Das kenne ich von mir sonst gar nicht.“
In den vergangenen Tagen haben viele in der Clubszene wieder etwas Hoffnung geschöpft. Der Bund hat 150 Millionen Euro Unterstützung für die Musikkultur angekündigt. Die Bayerische Staatsregierung fördert „kulturelle Spielstätten“mit 30 Millionen Euro, je nach Mitarbeiterzahl können Clubs und Bühnen in der zweiten Jahreshälfte bis zu 300000 Euro beantragen. „Alle diese Bemühungen lassen mich wieder positiver denken“, sagt Sebastian Karner. Jetzt endlich hat er „das Gefühl, dass der Politik etwas daran liegt, dass wir wieder öffnen können“. Was immer noch fehlt, sind ein konkreter Plan und ein Zeitpunkt, wann man endlich wieder tanzen darf.
PM-Chef Stefan Egger renoviert jetzt seine Disco – die Rücklagen lassen es zu. Wenn schon Zwangspause, dann besser zurückkommen. Er steht auf einem frisch verlegten Boden. Auf der Bar angebrochene Red-Bull-Dosen und Eimer. Für Putzwasser, nicht für Alkoholmischgetränke wie in Partynächten. Egger ist begierig darauf, wieder zu öffnen. „Das könnte man schon vernünftig machen.“Er denkt an abgetrennte Bereiche für einzelne Gruppen, an die Corona-App, verpflichtend wie die Ausweiskontrolle. Und an Fiebermessen am Eingang. Das Infrarot-Thermometer hat er schon gekauft, als Corona gerade anfing. Weil er immer die Hoffnung hatte, dass sein Club bald wieder lebt.
Für manche Szenen sind Clubs auch Schutzräume
Der PM-Chef renoviert jetzt seine Diskothek