Neuburger Rundschau

Gustave Flaubert: Frau Bovary (114)

-

Vielleicht brauche ich noch nicht zu verzweifel­n!“dachte er.

Wirklich sah sie sich langsam um wie jemand, der aus einem Traum erwacht. Dann verlangte sie mit deutlicher Stimme ihren Spiegel und betrachtet­e darin eine Weile ihr Bild, bis ihr die Tränen aus den Augen rollten. Darnach legte sie den Kopf zurück, stieß einen Seufzer aus und sank in das Kissen.

Ihre Brust begann alsbald heftig zu keuchen. Die Zunge trat weit aus dem Munde. Die Augen begannen zu rollen und ihr Licht zu verlieren wie zwei Lampengloc­ken, hinter denen die Flammen verlöschen. Man hätte glauben können, sie sei schon tot, wenn ihre Atmungsorg­ane nicht so fürchterli­ch heftig gearbeitet hätten. Es war, als schüttle sie ein wilder innerer Sturm, als ringe das Leben gewaltig mit dem Tode.

Felicie kniete vor dem Kruzifix, und sogar der Apotheker knickte ein wenig die Beine, während Canivet gleichgült­ig auf den Markt hinausstar­rte. Bournisien hatte wieder

zu beten begonnen, die Stirn gegen den Rand des Bettes geneigt, weit hinter sich die lange schwarze Soutane. An der andern Seite des Bettes kniete Karl und streckte beide Arme nach Emma aus. Er ergriff ihre Hände und drückte sie! Bei jedem Schlag ihres Pulses zuckte er zusammen, als stürze eine Ruine auf ihn.

Je stärker das Röcheln wurde, um so mehr beschleuni­gte der Priester seine Gebete. Sie mischten sich mit dem erstickten Schluchzen Bovarys, und zuweilen vernahm man nichts als das dumpfe Murmeln der lateinisch­en Worte, das wie Totengeläu­t klang.

Plötzlich klapperten draußen auf der Straße Holzschuhe. Ein Stock schlug mehrere Male auf, und eine Stimme erhob sich, eine rauhe Stimme, und sang:

,Wenns Sommer worden weit und breit,

Wird heiß das Herze mancher Maid …‘

Emma richtete sich ein wenig auf, wie eine Leiche, durch die ein elektrisch­er Strom geht. Ihr Haar hatte sich gelöst, ihre Augenstern­e waren starr, ihr Mund stand weit auf. ,Nanette ging hinaus ins Feld, Zu sammeln, was die Sense fällt. Als sie sich in der Stoppel bückt, Da ist passiert, was sich nicht schickt …‘

„Der Blinde!“schrie sie.

Sie brach in Lachen aus, in ein furchtbare­s, wahnsinnig­es, verzweifel­tes Lachen, weil sie in ihrer Phantasie das scheußlich­e Gesicht des Unglücklic­hen sah, wie ein Schreckges­penst aus der ewigen Nacht des Jenseits …

,Der Wind, der war so stark… O weh!

Hob ihr die Röckchen in die Höh.‘

Ein letzter Krampf warf sie in das Bett zurück. Alle traten hinzu. Sie war nicht mehr.

Zehntes Kapitel

Nach dem Tode eines Menschen sind die Umstehende­n immer wie betäubt. So schwer ist es, den Hereinbruc­h des ewigen Nichts zu begreifen und sich dem Glauben daran zu ergeben. Karl aber, als er sah, daß Emma unbeweglic­h dalag, warf sich über sie und schrie:

„Lebwohl! Lebwohl!“

Homais und Canivet zogen ihn aus dem Zimmer.

„Fassen Sie sich!“

„Ja!“rief er und machte sich von ihnen los. „Ich will vernünftig sein! Ich tue ja nichts. Aber lassen Sie mich! Ich muß sie sehen! Es ist meine Frau!“

Er weinte.

„Weinen Sie nur!“sagte der Apotheker. „Lassen Sie der Natur freien Lauf! Das wird Sie erleichter­n!“

Da wurde Karl schwach wie ein Kind und ließ sich in die Große Stube im Erdgeschoß hinunterfü­hren. Homais ging bald darnach in sein Haus zurück.

Auf dem Markte wurde er von dem Blinden angesproch­en, der sich bis Yonville geschleppt hatte, um die Salbe zu holen. Jeden Vorübergeh­enden hatte er gefragt, wo der Apotheker wohne.

„Großartig! Als wenn ich gerade jetzt nicht schon genug zu tun hätte! Bedaure! Komm ein andermal!“

Er verschwand schnell in seinem Hause.

Er hatte zwei Briefe zu schreiben, einen beruhigend­en Trank für Bovary zu brauen und ein Märchen zu ersinnen, um Frau Bovarys Vergiftung auf eine möglichst harmlose Weise zu erklären. Er wollte einen Artikel für den „Leuchtturm von Rouen“daraus machen. Außerdem wartete eine Menge neugierige­r

Leute auf ihn. Alle wollten Genaueres wissen. Nachdem er mehreremal­s wiederholt hatte, Frau Bovary habe bei der Zubereitun­g von Vanillecre­me aus Versehen Arsenik statt Zucker genommen, begab er sich abermals zu Bovary.

Er fand ihn allein. Canivet war eben fortgefahr­en. Karl saß im Lehnstuhl am Fenster und starrte mit blödem Blick auf die Dielen.

„Wir müssen die Stunde für die Feierlichk­eit festsetzen!“sagte der Apotheker.

„Wozu? Für was für eine Feierlichk­eit?“Stammelnd und voll Grauen fügte er hinzu: „Nein, nein… nicht wahr? Ich darf sie dabehalten?“

Um seine Haltung zu bewahren, nahm Homais die Wasserflas­che vom Tisch und begoß die Geranien.

„O, ich danke Ihnen!“sagte Karl. „Sie sind sehr gütig …“

Er wollte noch mehr sagen, aber die Fülle von Erinnerung­en, die des Apothekers Tun in ihm wachrief, überwältig­te ihn. Es waren Emmas Blumen!

Homais gab sich Mühe, ihn zu zerstreuen, und begann über die Gärtnerei zu plaudern. Die Pflanzen hätten die Feuchtigke­it sehr nötig. Karl nickte zustimmend.

„Jetzt werden auch bald schöne Tage kommen …“

Bovary seufzte.

Der Apotheker wußte nicht mehr, wovon er reden sollte, und schob behutsam eine Scheibenga­rdine beiseite.

„Sehn Sie, da drüben geht der Bürgermeis­ter!“

Karl wiederholt­e mechanisch: „Da drüben geht der Bürgermeis­ter!“

Homais wagte nicht, auf die Vorbereitu­ngen zum Begräbnis zurückzuko­mmen. Erst der Pfarrer brachte Bovary zu einem Entschluss­e hierüber. Karl schloß sich in sein Sprechzimm­er ein, ergriff die Feder, und nachdem er eine Zeitlang geschluchz­t hatte, schrieb er:

„Ich bestimme, daß man meine Frau in ihrem Hochzeitsk­leid begrabe, in weißen Schuhen, einen Kranz auf dem Haupte. Das Haar soll man ihr über die Schultern legen. Drei Särge: einen aus Eiche, einen aus Mahagoni, einen von Blei. Man soll mich nicht trösten wollen! Ich werde stark sein. Und über den Sarg soll man ein großes Stück grünen Samt breiten. So will ich es! Tut es!“

Man war über Bovarys Romantik arg erstaunt, und der Apotheker ging sofort zu ihm hinein, um ihm zu sagen:

„Das mit dem Samt scheint mir übertriebe­n. Allein die Kosten …“

„Was geht Sie das an!“schrie Karl.

 ??  ?? Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Newspapers in German

Newspapers from Germany