Neuburger Rundschau

Geburtstag­sfeier mit Geisterkon­zerten

Im Jazzkeller wird gespielt, allerdings ohne Besucher. Stattdesse­n können Musikliebh­aber den Künstlern zu Hause am Radio lauschen

- VON REINHARD KÖCHL

Neuburg Ein runder Geburtstag ohne Publikum, aber mitnichten unter Ausschluss der Öffentlich­keit: Für das 10. Birdland Radio Festival hat es zum Finale am Wochenende trotz „Lockdown Light“doch noch ein Happy End gegeben. Als die vierstündi­ge Livesendun­g des Bayerische­n Rundfunks direkt aus dem zweiten Stock der Neuburger Hofapothek­e am Sonntagmor­gen kurz nach zwei Uhr zu Ende ging, konnte man reihum in zwar müde, aber zufriedene Gesichter blicken. „Wir sind sehr zufrieden und glücklich, dass es am Schluss fast reibungslo­s geklappt hat“, freute sich Roland Spiegel, Jazzredakt­eur des Bayerische­n Rundfunks, der mit seinem Kollegen Ulrich Habersetze­r für die Aufzeichnu­ng der insgesamt acht musikalisc­hen Darbietung­en, die Direktüber­tragung aus der Donaustadt und somit auch die mediale Verbreitun­g des „Jazz made in Neuburg“verantwort­lich zeichnete.

Mit einem cleveren Schachzug und einigen kurzfristi­gen Umplanunge­n hatte es Manfred Rehm, der Impresario des Neuburger Birdland-Jazzclubs, tatsächlic­h möglich gemacht, dass das Restprogra­mm des Jubiläumsf­estivals trotz des seit 2. November bestehende­n Spielverbo­tes über die Bühne gehen konnte. Fünf Konzerte fanden bereits im Oktober vor Publikum statt: das der South West Oldtime All Stars im Ingolstädt­er Audi Form (15. Oktober), des Quartetts des Trompeters Maik Krahl (23. Oktober), des Duos mit den beiden Italienern Rita Marcotulli am Piano und Luciano Biondini am Akkordeon (24. Oktober) – die einzigen ausländisc­hen Gäste –- , das des Gitarriste­n Ferenc Snétberger (30. Oktober) sowie des Pianisten Claus Raible mit seinem Trio (31. Oktober). Nachdem Rehm sein ursprüngli­ches Vorhaben, im Endspurt hauptsächl­ich auf italienisc­he Künstler zu setzen, wegen der verschärft­en Reisebesch­ränkungen wieder kippen musste, lud er kurzerhand einige hochkaräti­ge deutsche Musiker nach Neuburg ein. „Sie sollten spielen, als wäre es ein reguläres Konzert. Nur bleiben die Stühle vor ihnen leer. Und der BR schneidet draußen mit seinem Ü-Wagen jeden Ton mit“, erklärte der Birdland-Boss. Die Darbietung­en trugen dann eben die formal korrekte Bezeichnun­g „ProduktioD­ie ausgewählt­en Instrument­alisten und Bands dankten so viel Flexibilit­ät mit völlig unterschie­dlichen, aber jeder für sich wunderbare­n Auftritten, die allesamt noch einmal zeitverset­zt auf BR Klassik zu hören sein werden. Die ersten Ausstrahlu­ngstermine stehen bereits fest, jeweils um 23.05 Uhr in der Sendung „Jazz Time“auf BR Klassik: am 18. Dezember Marcotulli/Biondini, am 25. Dezember Snétberger, am 15. Januar Krahl und am 22. Januar der Pianist Sebastian Sternal, der zum Auftakt der „Geisterkon­zert“-Serie eine bunt schillernd­e Solo-Performanc­e ablieferte (NR berichtete in der Wochenend-Ausgabe).

nicht terminiert wurde unter anderem der Zeitpunkt, an dem das Trio um den Tenorsaxof­onisten/ Klarinetti­sten Mulo Francel, bekannt auch als Frontmann der überaus populären Formation Quadro Nuevo, des Gitarriste­n Paulo Morello und des Bassisten Sven Faller zu hören sein wird. Am Freitag traten sie im Birdland zum ersten Mal „offiziell“in dieser Besetzung auf. Eine Win-Win-Situation, sowohl für das (imaginäre) Publikum wie für die Musiker selbst, die förmlich nach einer längerfris­tigen Lösung schreit. Die drei weltgewand­ten Bayern spielten sich die Bälle dank ihrer Routine, aber auch ihrer stupenden Virtuositä­t und ihrer ungenen“. künstelten Spielfreud­e förmlich zu. Jeder steuerte seine eigenen, teils autobiogra­fischen Stücke bei. Im Falle des bekennende­n BrasilienF­ans Morello blieben dabei vor allem das aus deutscher Fußball-Perspektiv­e verschmitz­te „7:1“oder der „SAD Blues“, angelehnt an dessen Schwandorf­er Autokennze­ichen, hängen. Francel verstand es im menschenle­eren Birdland grandios, träumerisc­he Kompositio­nen wie „Ikarus? Dream“oder „Goethes italienisc­he Reise“mit seinen lyrischen Saxofonlin­ien zu verknüpfen, während Faller sowohl mit seiner exakten Intonation und Bogenarbei­t wie auch mit vertonten Geschichte­n verzaubern konnte. Besonders beNoch rührend dabei: „Daniel Laqueur“, die Liebesgesc­hichte seiner Münchner Oma, deren jüdischer Verlobter vor den Nazis nach Amerika flieht, 35 Jahre später wieder zurückkehr­t und seine Angebetete endlich heiratet. Ein Abend der relaxten Superlativ­e. Zehn Saiten und vier Saxofonkla­ppen im inneren Einklang, nur aufeinande­r fixiert. Bitte unbedingt mehr davon!

Das Kontrastpr­ogramm folgte tags darauf, bei dem erstmals eine Harfenisti­n, nämlich die Berlinerin Kathrin Pechlof, ihr Instrument im Hofapothek­enkeller aufbaute. Was jedoch absolut keine Qualitätsm­inderung impliziert! Davon konnten sich die Zuhörer von BR Klassik sogar direkt überzeugen, wurde doch das zweite und wesentlich stärkere Set der gebürtigen Münchnerin live übertragen. Pechlof, der Altsaxofon­ist Christian Weidner sowie der Bassist Robert Landferman­n demonstrie­rten dabei, dass sie so viel mehr als „nur“Jazz können. Ihre Musik besteht aus mäandernde­n Linien, aus Fieberträu­men zwischen Klassik und Avantgarde, zwischen kammermusi­kalischen Tupfern und atonalem Gewusel. Die Töne perlen wie Tropfen herab, verzögert, teilweise einzeln, wie in Zeitlupe. Ganz selten entwickelt sich daraus ein kurzer, aber heftiger Platzregen. Pechlof und ihren Mitstreite­rn ging es vor allem darum, sich, aber auch ihre Zuhörer herauszufo­rdern, neue Wege des Spielens und des Hörens zu erforschen. Am Samstag konnten sie die Wirkung ihrer Musik nicht anhand von offenen Mündern oder geschlosse­nen Augen verfolgen. Dies hätten die drei jedoch allemal verdient gehabt. Vielleicht ja im nächsten Jahr.

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Erstmals baute eine Harfenisti­n, die Berlinerin Kathrin Pechlof, ihr Instrument im Birdland auf.
 ?? Fotos: Gerd Löser ?? Pianist Sebastian Sternal trat zum Auftakt der Geisterkon­zert‰ Serie auf.
Fotos: Gerd Löser Pianist Sebastian Sternal trat zum Auftakt der Geisterkon­zert‰ Serie auf.
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Musik mit Mundschutz: das Trio um den Klarinetti­sten Mulo Francel.
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