Als der Rinderwahnsinn um sich griff
Vor 20 Jahren erkrankte die erste Kuh in Deutschland an BSE. Tausende Tiere wurden getötet. Auch ein Bauer im Unterallgäu verlor seine ganze Herde. Ist die Seuche immer noch eine Gefahr?
Westerheim/München An diesem bitterkalten Wintertag herrscht Ausnahmezustand in der Gemeinde Westerheim im Unterallgäu. Menschen mit Fackeln und Transparenten kommen frühmorgens zum Bauernhof von Leonhard Kirchensteiner. An einem Haus weht eine schwarze Trauerfahne. „Sinnloses Morden“ist auf einem Plakat zu lesen. An jenem 12. Januar 2001 wird die Karriere eines Vorzeige-Landwirts abrupt unterbrochen.
Transporter bringen die gesamte Herde von Leonhard Kirchensteiner, das sind über 140 Rinder, zu einer Tierkörper-Beseitigungsanlage. Der damals 49-Jährige ist einer der ersten BSE-Bauern in Deutschland. Seine Kuh Nelke ist an der Seuche erkrankt. Damals bedeutet das noch, dass der gesamte Bestand des betroffenen Bauern getötet wird.
Genau 20 Jahre ist es her, dass die Rinderseuche in Deutschland erstmals auftrat. Am 24.November 2000 war bei einer Kuh in Schleswig-Holstein BSE festgestellt worden. Drei Wochen später erhält Landwirt Kirchensteiner die Nachricht, dass Nelke womöglich auch mit dem Erreger infiziert ist, der die Krankheit Bovine spongiforme Enzephalopathie auslöst – oder wie viele fortan sagen: Rinderwahnsinn.
Für die Familie beginnt eine Zeit quälender Ungewissheit. Kirchensteiners Frau ist damals schwanger, sie erwartet das achte Kind der Familie. Kurz nach Weihnachten kommt dann die Hiobsbotschaft, dass Nelke wirklich an BSE erkrankt ist.
Diese Seuche versetzt die Menschen zu Beginn des Jahrtausends in einen Schockzustand. Der damalige bayerische Landwirtschaftsminister Josef Miller (CSU, Memmingen) hat diese Stimmung einmal so beschrieben: „Die Lage war sehr ernst. Viele Mitbürger hatten große Angst, dass BSE bei den Menschen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auslöst. Befürchtet wurde, dass es hunderttausende von Toten gibt.“BSE zerfraß das Gehirn von Kühen – und war auch auf den Menschen übertragbar.
Die Rinderseuche trifft mit Kirchensteiner einen Landwirt mit Bilderbuch-Karriere. Aus kleinen Anfängen hatte er einen stattlichen Betrieb aufgebaut. Bei der Meisterprüfung war er der Beste in Schwaben. Als er seine gesamte Herde verliert, ist Kirchensteiner Bauernobmann in Westerheim und sitzt im Unterallgäuer Kreistag. Mit Tränen in den Augen beteuert er immer wieder, dass er seine Landwirtschaft stets nach bestem Wissen und Gewissen geführt habe.
Der Verdacht habe sich erhärtet, dass die Seuche über tiermehlbelastetes Kraftfutter übertragen worden sei, heißt es einige Zeit später aus der Forschung. Davon gehen Experten des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) heute ebenfalls aus. Offenbar spielten auch sogenannte tierfetthaltige Milchaustauscher bei der Infektion der Tiere eine Rolle. Kirchensteiner fütterte diese Austauscher als Ersatz für Vollmilch.
Höchst umstritten ist vor 20 Jahren, dass bei einem BSE-Fall der gesamte Tierbestand getötet wird. Bauern fordern damals die Einführung des „Schweizer Modells“. Es sieht vor, nur einen Teil der betroffenen Herde zu keulen. Doch Kirchensteiner bleibt damals nichts anderes übrig, als der Tötung aller Rinder zuzustimmen. Denn nach der damaligen Rechtslage hätte der Landwirt keine Abnehmer für Milch und Fleisch gefunden, wenn er sich dagegen entschieden hätte.
Ein paar Jahre später sagt ein Vertreter des Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, dass das Töten des gesamten Tierbestandes „überflüssig“gewesen sei. Kirchensteiner muss das wie einen Schlag ins Gesicht empfinden. Doch der Unterallgäuer will nicht mehr zurückschauen: „Das nützt mir jetzt doch alles nichts mehr“, sagt er im Jahr 2004 in einem Interview mit unserer Redaktion.
Mittlerweile kommt die RinderKrankheit so gut wie nicht mehr vor. In den vergangenen zehn Jahren gab es dem Bundesministerium zufolge lediglich zwei BSE-Fälle in Deutschland – und zwar im Jahr 2014. Dabei handelte es sich aber jeweils um atypische BSE, die in „seltenen Fällen spontan bei älteren Tieren“auftritt. Zuvor gab es insgesamt 413 bestätigte Fälle von klassischer BSE in ganz Deutschland.
In Bayern erkrankte in den vergangenen zehn Jahren offenbar kein einziges Rind an BSE. Von 2000 bis 2010 sind indes 3897 Rinder im Freistaat wegen BSE gestorben oder auf behördliche Anordnung getötet worden, sagt Dr. Michael Köstler, Geschäftsführer der Bayerischen Tierseuchenkasse. „Die überwiegende Anzahl der Tiere“, nämlich 3058 Stück Vieh, sei im Jahr 2001
„zu Verlust“gegangen. Insgesamt zahlte die Tierseuchenkasse BSEEntschädigungen in Höhe von knapp 4,6 Millionen Euro. Bei den Erregern handelt es sich weder um Viren noch Bakterien, sondern um infektiöse Proteine („Prione“). Erkrankte Tiere zeigen Symptome wie Ängstlichkeit, sind überempfindlich und haben Bewegungsstörungen.
BSE kann laut dem BMEL auch durch Lebensmittel auf Menschen übertragen werden. Dass das in Deutschland nicht vorkam, liege an den Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen: Landwirte dürfen unter anderem keinerlei verarbeitetes tierisches Protein an Wiederkäuer und andere Nutztiere verfüttern. Zudem müssen bei der Schlachtung von Rindern Organe, die als riskant gelten, entfernt werden.
Damals, vor 20 Jahren in Westerheim, resigniert Leonhard Kirchensteiner nicht, sondern baut seinen Betrieb wieder auf. Inzwischen hat der 28-jährige Sohn die Landwirtschaft übernommen und die Kirchensteiners haben einen Aussiedler-Hof an den Ortsrand gebaut. Der Optimismus ist wieder zurückgekehrt. Doch das Trauma von damals, als BSE alles infrage stellte, ist nie wieder aus den Köpfen verschwunden.