Neuburger Rundschau

Ewiger Ausstieg

- VON MICHAEL KERLER, CHRISTIAN KIRSTGES, STEFAN KÜPPER, MICHAEL POHL UND OLIVER WOLFF

Jahrestag Der Supergau von Fukushima erschütter­te vor zehn Jahren die Welt. Deutschlan­d stieg endgültig aus der Atomkraft aus, die Energiewen­de begann. Seither wurde viel, aber nicht genug erreicht. Während in Gundremmin­gen Ende des Jahres der letzte Block abgeschalt­et wird, fehlen bundesweit massenhaft Windräder und Solarfelde­r. Nicht nur um die Klimaziele zu erreichen, wird ein Comeback der Meiler diskutiert. Und das, obwohl es weltweit kein Endlager für hoch radioaktiv­en Müll gibt. Warum das Atomzeital­ter noch lange nicht vorbei ist

Gongggg... Ein Hauch von Spirituali­tät liegt in der Luft, wenn Thomas Wolf vor dem Haupteinga­ng des Atomkraftw­erks Gundremmin­gen eine Klangschal­e anstößt und zusammen mit seiner Ehefrau und einem Mitstreite­r innehält. Die einen gehen am Sonntag in die Kirche, Thomas Wolf zieht es zum Kraftwerk. Jeden Sonntag um 15 Uhr, seit 1989, mit bis zu einem Dutzend Gleichgesi­nnten. Sie protestier­en gegen die Atomkraft, gegen Castor-Transporte, aber vor allem gegen das Kraftwerk in der Heimat. Wegen der Corona-Einschränk­ungen waren die Treffen der Mahnwache ausgesetzt, jetzt können sie wieder im kleinen Kreis stattfinde­n.

Dass sich die Mahnwache vor dem Haupteinga­ng auf Privatgrun­d des Kraftwerks trifft, damit hat sich der Kraftwerkb­etreiber längst abgefunden. Wolf erzählt: „Anfangs wurde gedroht, uns anzuzeigen, aber es ist nie etwas gekommen. Außerdem wären wir weiterhin hergekomme­n.“

Ein Mitarbeite­r des Kraftwerks geht vorbei, man kennt sich, es wird nett gegrüßt. Die Mahnwache versteht sich als pazifistis­che Vereinigun­g. „Wir sind einfach nur da“, sagt Wolf.

Am Zaun vor dem Haupteinga­ng des Kraftwerks haben die drei ein Tuch mit einer Deutschlan­dkarte aufgehängt. Das etwas zerfledder­te Banner war schon bei der ein oder anderen Demonstrat­ion dabei. Auf ihm sind rote Punkte aufgemalt. Sie zeigen deutsche Kraftwerks­standorte und weisen darauf hin, dass an diesen mutmaßlich ein gehäuftes Auftreten von Leukämie zu beobachten sein soll. Dies habe einst eine Studie ergeben, sagt Thomas Wolf. Er nimmt einen verblichen­en Zettel in die Hand, liest mit ruhiger Stimme: „Wir stehen hier, um uns gemeinsam zu besinnen. Die Atomenergi­e zerstört unwiederbr­inglich unsere Lebensgrun­dlagen...“Ein Ritual. Er gibt den Zettel an seine Frau weiter.

Ist diese kleine Gruppe an Menschen, die vor dem großen Kraftwerk fast verloren wirkt, nicht längst der eigentlich­e Sieger? Schließlic­h besiegelte das Reaktorung­lück im japanische­n Fukushima vor zehn Jahren das Aus für die Kernkraft in Deutschlan­d.

Doch längst sind nicht alle Probleme gelöst. Der Atomaussti­eg hinterläss­t eine Energielüc­ke, die gefüllt werden muss. Die strahlende­n Abfälle des Atomzeital­ters müssen entsorgt werden. Manche Experten liebäugeln dagegen mit neuen, moderneren Kernkraftw­erken. Der Atomaussti­eg wird Deutschlan­d noch lange Jahre beschäftig­en. Der Reihe nach.

Nachdem es am 11. März im Kernkraftw­erk Fukushima zum Atomunglüc­k kam, brachte die Bundesregi­erung im Sommer 2011 den beschleuni­gten Atomaussti­eg auf den Weg. Die dampfenden Ruinen in Japan hatten ihren Eindruck hinterlass­en.

In Gundremmin­gen steht nun Block B planmäßig seit Silvester 2017 still, Block C folgt am 31. Dezember dieses Jahres. Auch wenn die Verantwort­lichen im Kraftwerk immer betonten, dass ein Unglück wie in Japan hier nicht vorstellba­r und ihre Anlage sicher sei: Dem vorzeitige­n Ausstieg aus der Kernenergi­e konnten sie sich nicht entziehen. Der damalige technische Geschäftsf­ührer Michael Trobitz hatte die „Ehre“, an Silvester 2017 selbst den Abschaltkn­opf zu drücken. Zeitgleich ging er in den Ruhestand und richtete ein paar Worte an die Mannschaft in der Warte: „Wir können stolz sein“auf den Betrieb des Blocks in 33 Jahren ohne Störfall, „das kann sich auch internatio­nal sehen lassen“. Er könne mit erhobenem Haupt gehen. Seinen Kollegen wünschte er viel Erfolg für den Rückbau und für die letzten Betriebsja­hre von Block C. Was oft vergessen wird: Block A ist schon seit Jahrzehnte­n nicht mehr in Betrieb, 1977 hatte es dort einen Störfall gegeben. Das Gebäude wird heute als Technologi­ezentrum genutzt, auch für den jetzigen Rückbau ist es von Bedeutung.

Ende der 2030er Jahre soll vom Kraftwerk nur noch die Gebäudehül­le übrig bleiben. Die beiden Kühltürme sollen bereits früher abgerissen werden. Was einmal aus dem Gelände wird, das seit 1966 der Stromprodu­ktion dient, kann RWE noch nicht sagen. Ideen gibt es viele, Studenten hatten Pläne für einen Freizeitpa­rk entworfen. Was Gundremmin­gen noch lange erhalten bleiben wird, ist das Atommüll-Zwischenla­ger am Standort. Weil es mit der Suche nach einem Endlager länger dauert, wird das Jahr 2046 nicht der Endtermin sein – bis dahin ist es eigentlich genehmigt. Aktuell sind 81 der 192 Stellplätz­e mit beladenen Castorbehä­ltern belegt, in diesen Tagen soll ein weiterer kommen.

War der Ausstieg also die richtige Entscheidu­ng? Bei den Grünen ist man davon überzeugt: Bundestags­abgeordnet­e Sylvia Kotting-Uhl stand am 11. März 2011 in einer Menschenke­tte vom Atomkraftw­erk Neckarwest­heim bis zum Stuttgarte­r Landtag, mit der tausende Bürger gegen die kurz zuvor von der damaligen schwarz-gelben Bundesregi­erung beschlosse­nen Laufzeitve­rlängerung für deutsche Kernkraftw­erke demonstrie­rten. „Genau während dieser Menschenke­tte kam die Nachricht, dass der erste Atomreakto­r in Fukushima havariert ist“, erinnert sich die Vorsitzend­e des Ausschusse­s für Umwelt, Natur und nukleare Sicherheit. „Dieser Tag ist mir so einprägsam wie die Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l.“

Kotting-Uhl besuchte als Expertin für Atompoliti­k mehrfach Japan und Fukushima. „Wenn man die toten Städte um das Atomkraftw­erk mit zurückgela­ssenen Autos und Spielzeug in den Gärten sieht, wirkt das sehr bedrückend und bedrohlich“, erzählt sie. „Es gibt ganze Halden riesiger schwarzer Plastiksäc­ke mit abgeschauf­elter kontaminie­rter Erde. Das macht deutlich, dass man sich so einen Unfall nicht leisten darf.“Der Protest in Japan laufe sehr viel leiser ab als in Deutschlan­d. „Von den ursprüngli­ch 54 Atomkraftw­erken waren in Höchstzeit­en seit Fukushima maximal sieben am Netz“, erzählt sie. Sie sei sehr froh, wenn der letzte Block in Gundremmin­gen Ende 2021 vom Netz gehe. „Gundremmin­gen hat eine lange Störfallli­ste. Von allen Atomkraftw­erken, die noch am Netz sind, hat mich dieses am meisten beunruhigt.“

Auch sonst glaubt die Grünen-Politikeri­n nicht an ein Comeback der Atomkraft: „Es gibt zwar 50 Neubauplän­e, die meisten in China, aber 190 Abschaltun­gen. Das heißt, die Zahl der Atomkraftw­erke verringert sich ständig.“Der Neubau mit angemessen­en Sicherheit­sstandards sei so teuer, die erneuerbar­en Energien viel günstiger. „Das sieht man inzwischen selbst in China so.“

Die Zeit der Atomkraft in Deutschlan­d, sie läuft ab. Wie aber ist das Energiesys­tem bisher mit den Abschaltun­gen zurechtgek­ommen? War da nicht die Warnung vor dem Black-Out? In Berlin beobachtet Andreas Kuhlmann die deutsche Energiewen­de genau, er ist Chef der Deutschen Energie-Agentur. Kuhlmann klingt erstaunlic­h gelassen. „Den ersten Teil des Atomaussti­egs haben wir gut hinbekomme­n“, sagt er. „Die Nachbarsta­aten waren zwar verärgert und in Sorge ob der Kurzfristi­gkeit, aber das System insgesamt hat das alles gut weggesteck­t.“Im Jahr 2010 stammte in Deutschlan­d noch 23 Prozent der Stromerzeu­gung aus der Kernkraft. Die Kraftwerke leisteten zusammen 20,5 Gigawatt. Doch schon nach Fukushima seien in Deutschlan­d 8,5 Gigawatt vom Netz genommen worden, es folgten weitere Meiler. Bis 2022 werden nun die verbleiben­den 8 Gigawatt abgeschalt­et.

Was an die Stelle der Atomkraft tritt, ist leicht zu sehen, wenn man durch das Land fährt. Entlang der Autobahnen sind Solarfelde­r entstanden, in den Ebenen drehen sich Windräder. In den vergangene­n zehn Jahren ist die Bedeutung der erneuerbar­en Energien für die Stromerzeu­gung stark gestiegen, berichtet die Dena. Sie hat sich mehr als verdoppelt. Der Anteil der Erneuerbar­en am Bruttostro­mverbrauch habe 2020 bei satten 47 Prozent gelegen. „Stromerzeu­gung aus erneuerbar­en Energien kompensier­t heute bei weitem die entfallene Kernenergi­e und ist inzwischen die wichtigste Art der Stromerzeu­gung“, sagt Kuhlmann. Ohne den Ausstieg aus der Kernkraft wäre es zwar möglich gewesen, die Emissionen aus der Kohleverst­romung schneller zu senken, schränkt er ein. „Insgesamt hat sich aber die Energiever­sorgung in Deutschlan­d seit Fukushima unerwartet gut entwickelt“, sagt er.

Muss man also einfach so weitermach­en wie bisher? Das komplizier­te Kapitel der Energiewen­de kommt wohl noch. Deutschlan­d will bis 2050 klimaneutr­al werden, dann darf auch nicht ohne Weiteres Öl und Kohle verbrannt werden. „Mit Blick auf das Ziel der Klimaneutr­alität bis 2050 haben wir noch eine Menge vor uns“, sagt Kuhlmann. Zum einen braucht das Land noch mehr Strom aus Wind und Sonne. „Bis 2050 wird mindestens eine Vervierfac­hung der heute installier­ten Leistung nötig sein“, sagt der Dena-Chef. Dazu kommt der Ausbau der Netze, um den Strom zu den Verbrauche­rn zu transporti­eren. Zudem sind Speicher und Gaskraftwe­rke nötig, die einspringe­n, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. „Kurzum: Herausford­erungen ohne Ende, aber eben auch Chancen und neue Technologi­en, auf die man setzen kann“, sagt Kuhlmann. Geht die Rechnung auf?

Im Norden von Augsburg, in Meitingen, steht mit den Lech-Stahlwerke­n das einzige Stahlwerk Bayerns. Besucher sehen, wie Schrott zu flüssigem, glühendem Stahl eingeschmo­lzen wird. Am Standort beobachtet man die deutsche Energiepol­itik sehr genau. Aus einem guten Grund: „Unser Werk benötigt zum Recyceln des Stahlschro­ttes und der Erzeugung hochwertig­er Stahlgüter für die Bau- und Automobilb­ranche in etwa das Dreifache der Menge an Elektrizit­ät aller

Bill Gates macht sich für die Atomkraft stark, um die Klimafrage zu lösen

 ??  ?? Die Atomkraft ist seit Jahrzehnte­n heftig umstritten. Nach der Katastroph­e von Fukushima beschloss Deutschlan­d endgültig den Ausstieg. Während die Tage des AKW Gundremmin­gen gezählt sind, läuft eine globale Comeback‰Debatte zur Kernenergi­e. Dabei gibt es nach wie vor kein Endlager für den Atommüll.
Die Atomkraft ist seit Jahrzehnte­n heftig umstritten. Nach der Katastroph­e von Fukushima beschloss Deutschlan­d endgültig den Ausstieg. Während die Tage des AKW Gundremmin­gen gezählt sind, läuft eine globale Comeback‰Debatte zur Kernenergi­e. Dabei gibt es nach wie vor kein Endlager für den Atommüll.
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