Ewiger Ausstieg
Jahrestag Der Supergau von Fukushima erschütterte vor zehn Jahren die Welt. Deutschland stieg endgültig aus der Atomkraft aus, die Energiewende begann. Seither wurde viel, aber nicht genug erreicht. Während in Gundremmingen Ende des Jahres der letzte Block abgeschaltet wird, fehlen bundesweit massenhaft Windräder und Solarfelder. Nicht nur um die Klimaziele zu erreichen, wird ein Comeback der Meiler diskutiert. Und das, obwohl es weltweit kein Endlager für hoch radioaktiven Müll gibt. Warum das Atomzeitalter noch lange nicht vorbei ist
Gongggg... Ein Hauch von Spiritualität liegt in der Luft, wenn Thomas Wolf vor dem Haupteingang des Atomkraftwerks Gundremmingen eine Klangschale anstößt und zusammen mit seiner Ehefrau und einem Mitstreiter innehält. Die einen gehen am Sonntag in die Kirche, Thomas Wolf zieht es zum Kraftwerk. Jeden Sonntag um 15 Uhr, seit 1989, mit bis zu einem Dutzend Gleichgesinnten. Sie protestieren gegen die Atomkraft, gegen Castor-Transporte, aber vor allem gegen das Kraftwerk in der Heimat. Wegen der Corona-Einschränkungen waren die Treffen der Mahnwache ausgesetzt, jetzt können sie wieder im kleinen Kreis stattfinden.
Dass sich die Mahnwache vor dem Haupteingang auf Privatgrund des Kraftwerks trifft, damit hat sich der Kraftwerkbetreiber längst abgefunden. Wolf erzählt: „Anfangs wurde gedroht, uns anzuzeigen, aber es ist nie etwas gekommen. Außerdem wären wir weiterhin hergekommen.“
Ein Mitarbeiter des Kraftwerks geht vorbei, man kennt sich, es wird nett gegrüßt. Die Mahnwache versteht sich als pazifistische Vereinigung. „Wir sind einfach nur da“, sagt Wolf.
Am Zaun vor dem Haupteingang des Kraftwerks haben die drei ein Tuch mit einer Deutschlandkarte aufgehängt. Das etwas zerfledderte Banner war schon bei der ein oder anderen Demonstration dabei. Auf ihm sind rote Punkte aufgemalt. Sie zeigen deutsche Kraftwerksstandorte und weisen darauf hin, dass an diesen mutmaßlich ein gehäuftes Auftreten von Leukämie zu beobachten sein soll. Dies habe einst eine Studie ergeben, sagt Thomas Wolf. Er nimmt einen verblichenen Zettel in die Hand, liest mit ruhiger Stimme: „Wir stehen hier, um uns gemeinsam zu besinnen. Die Atomenergie zerstört unwiederbringlich unsere Lebensgrundlagen...“Ein Ritual. Er gibt den Zettel an seine Frau weiter.
Ist diese kleine Gruppe an Menschen, die vor dem großen Kraftwerk fast verloren wirkt, nicht längst der eigentliche Sieger? Schließlich besiegelte das Reaktorunglück im japanischen Fukushima vor zehn Jahren das Aus für die Kernkraft in Deutschland.
Doch längst sind nicht alle Probleme gelöst. Der Atomausstieg hinterlässt eine Energielücke, die gefüllt werden muss. Die strahlenden Abfälle des Atomzeitalters müssen entsorgt werden. Manche Experten liebäugeln dagegen mit neuen, moderneren Kernkraftwerken. Der Atomausstieg wird Deutschland noch lange Jahre beschäftigen. Der Reihe nach.
Nachdem es am 11. März im Kernkraftwerk Fukushima zum Atomunglück kam, brachte die Bundesregierung im Sommer 2011 den beschleunigten Atomausstieg auf den Weg. Die dampfenden Ruinen in Japan hatten ihren Eindruck hinterlassen.
In Gundremmingen steht nun Block B planmäßig seit Silvester 2017 still, Block C folgt am 31. Dezember dieses Jahres. Auch wenn die Verantwortlichen im Kraftwerk immer betonten, dass ein Unglück wie in Japan hier nicht vorstellbar und ihre Anlage sicher sei: Dem vorzeitigen Ausstieg aus der Kernenergie konnten sie sich nicht entziehen. Der damalige technische Geschäftsführer Michael Trobitz hatte die „Ehre“, an Silvester 2017 selbst den Abschaltknopf zu drücken. Zeitgleich ging er in den Ruhestand und richtete ein paar Worte an die Mannschaft in der Warte: „Wir können stolz sein“auf den Betrieb des Blocks in 33 Jahren ohne Störfall, „das kann sich auch international sehen lassen“. Er könne mit erhobenem Haupt gehen. Seinen Kollegen wünschte er viel Erfolg für den Rückbau und für die letzten Betriebsjahre von Block C. Was oft vergessen wird: Block A ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Betrieb, 1977 hatte es dort einen Störfall gegeben. Das Gebäude wird heute als Technologiezentrum genutzt, auch für den jetzigen Rückbau ist es von Bedeutung.
Ende der 2030er Jahre soll vom Kraftwerk nur noch die Gebäudehülle übrig bleiben. Die beiden Kühltürme sollen bereits früher abgerissen werden. Was einmal aus dem Gelände wird, das seit 1966 der Stromproduktion dient, kann RWE noch nicht sagen. Ideen gibt es viele, Studenten hatten Pläne für einen Freizeitpark entworfen. Was Gundremmingen noch lange erhalten bleiben wird, ist das Atommüll-Zwischenlager am Standort. Weil es mit der Suche nach einem Endlager länger dauert, wird das Jahr 2046 nicht der Endtermin sein – bis dahin ist es eigentlich genehmigt. Aktuell sind 81 der 192 Stellplätze mit beladenen Castorbehältern belegt, in diesen Tagen soll ein weiterer kommen.
War der Ausstieg also die richtige Entscheidung? Bei den Grünen ist man davon überzeugt: Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl stand am 11. März 2011 in einer Menschenkette vom Atomkraftwerk Neckarwestheim bis zum Stuttgarter Landtag, mit der tausende Bürger gegen die kurz zuvor von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung beschlossenen Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke demonstrierten. „Genau während dieser Menschenkette kam die Nachricht, dass der erste Atomreaktor in Fukushima havariert ist“, erinnert sich die Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt, Natur und nukleare Sicherheit. „Dieser Tag ist mir so einprägsam wie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.“
Kotting-Uhl besuchte als Expertin für Atompolitik mehrfach Japan und Fukushima. „Wenn man die toten Städte um das Atomkraftwerk mit zurückgelassenen Autos und Spielzeug in den Gärten sieht, wirkt das sehr bedrückend und bedrohlich“, erzählt sie. „Es gibt ganze Halden riesiger schwarzer Plastiksäcke mit abgeschaufelter kontaminierter Erde. Das macht deutlich, dass man sich so einen Unfall nicht leisten darf.“Der Protest in Japan laufe sehr viel leiser ab als in Deutschland. „Von den ursprünglich 54 Atomkraftwerken waren in Höchstzeiten seit Fukushima maximal sieben am Netz“, erzählt sie. Sie sei sehr froh, wenn der letzte Block in Gundremmingen Ende 2021 vom Netz gehe. „Gundremmingen hat eine lange Störfallliste. Von allen Atomkraftwerken, die noch am Netz sind, hat mich dieses am meisten beunruhigt.“
Auch sonst glaubt die Grünen-Politikerin nicht an ein Comeback der Atomkraft: „Es gibt zwar 50 Neubaupläne, die meisten in China, aber 190 Abschaltungen. Das heißt, die Zahl der Atomkraftwerke verringert sich ständig.“Der Neubau mit angemessenen Sicherheitsstandards sei so teuer, die erneuerbaren Energien viel günstiger. „Das sieht man inzwischen selbst in China so.“
Die Zeit der Atomkraft in Deutschland, sie läuft ab. Wie aber ist das Energiesystem bisher mit den Abschaltungen zurechtgekommen? War da nicht die Warnung vor dem Black-Out? In Berlin beobachtet Andreas Kuhlmann die deutsche Energiewende genau, er ist Chef der Deutschen Energie-Agentur. Kuhlmann klingt erstaunlich gelassen. „Den ersten Teil des Atomausstiegs haben wir gut hinbekommen“, sagt er. „Die Nachbarstaaten waren zwar verärgert und in Sorge ob der Kurzfristigkeit, aber das System insgesamt hat das alles gut weggesteckt.“Im Jahr 2010 stammte in Deutschland noch 23 Prozent der Stromerzeugung aus der Kernkraft. Die Kraftwerke leisteten zusammen 20,5 Gigawatt. Doch schon nach Fukushima seien in Deutschland 8,5 Gigawatt vom Netz genommen worden, es folgten weitere Meiler. Bis 2022 werden nun die verbleibenden 8 Gigawatt abgeschaltet.
Was an die Stelle der Atomkraft tritt, ist leicht zu sehen, wenn man durch das Land fährt. Entlang der Autobahnen sind Solarfelder entstanden, in den Ebenen drehen sich Windräder. In den vergangenen zehn Jahren ist die Bedeutung der erneuerbaren Energien für die Stromerzeugung stark gestiegen, berichtet die Dena. Sie hat sich mehr als verdoppelt. Der Anteil der Erneuerbaren am Bruttostromverbrauch habe 2020 bei satten 47 Prozent gelegen. „Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien kompensiert heute bei weitem die entfallene Kernenergie und ist inzwischen die wichtigste Art der Stromerzeugung“, sagt Kuhlmann. Ohne den Ausstieg aus der Kernkraft wäre es zwar möglich gewesen, die Emissionen aus der Kohleverstromung schneller zu senken, schränkt er ein. „Insgesamt hat sich aber die Energieversorgung in Deutschland seit Fukushima unerwartet gut entwickelt“, sagt er.
Muss man also einfach so weitermachen wie bisher? Das komplizierte Kapitel der Energiewende kommt wohl noch. Deutschland will bis 2050 klimaneutral werden, dann darf auch nicht ohne Weiteres Öl und Kohle verbrannt werden. „Mit Blick auf das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 haben wir noch eine Menge vor uns“, sagt Kuhlmann. Zum einen braucht das Land noch mehr Strom aus Wind und Sonne. „Bis 2050 wird mindestens eine Vervierfachung der heute installierten Leistung nötig sein“, sagt der Dena-Chef. Dazu kommt der Ausbau der Netze, um den Strom zu den Verbrauchern zu transportieren. Zudem sind Speicher und Gaskraftwerke nötig, die einspringen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. „Kurzum: Herausforderungen ohne Ende, aber eben auch Chancen und neue Technologien, auf die man setzen kann“, sagt Kuhlmann. Geht die Rechnung auf?
Im Norden von Augsburg, in Meitingen, steht mit den Lech-Stahlwerken das einzige Stahlwerk Bayerns. Besucher sehen, wie Schrott zu flüssigem, glühendem Stahl eingeschmolzen wird. Am Standort beobachtet man die deutsche Energiepolitik sehr genau. Aus einem guten Grund: „Unser Werk benötigt zum Recyceln des Stahlschrottes und der Erzeugung hochwertiger Stahlgüter für die Bau- und Automobilbranche in etwa das Dreifache der Menge an Elektrizität aller
Bill Gates macht sich für die Atomkraft stark, um die Klimafrage zu lösen