Angst vor den Islamisten
Innerhalb weniger Wochen haben die islamistischen Taliban ganz Afghanistan eingenommen. Masud Arifi ist schon 2015 von dort in die Region Neuburg geflüchtet. Warum er sich nun große Sorgen um seine Familie macht
Seitdem die Taliban ganz Afghanistan eingenommen haben, hat der in Neuburg lebende Masud Arifi Angst um seine dort lebende Familie.
Neuburg Masud Arifi hat Angst. Nicht um sich selbst, er wohnt seit mehr als fünf Jahren im sicheren Neuburg. Der 24-Jährige hat Angst um seine Familie in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Seit zwei Wochen versucht er mehrmals täglich seine Schwester zu erreichen – bisher jedoch erfolglos. Er befürchtet das Schlimmste, denn für die nun herrschenden radikal-islamistischen Taliban ist die 38-Jährige eine „Verräterin“und somit vogelfrei.
Rückblick. Anfang Juli verlassen die letzten Truppen der NATO nach fast 20 Jahren den wichtigen Luftwaffenstützpunkt in Bagram am Fuße des Hindukusch. Westliche Geheimdienste rechnen zu diesem Zeitpunkt zwar mit einem Fall der afghanischen Regierung, aber eher innerhalb mehrerer Monate und nicht weniger Wochen. Doch es geht schnell. Bereits Anfang August sind nahezu alle Provinzhauptstädte in der Hand der Taliban, die aufgebauten Strukturen fallen zusammen wie ein Kartenhaus.
Unter den Städten, die die Islamisten einnehmen, ist auch Kundus, die Heimat von Arifis Schwester. Von 2003 bis 2020 waren hier Soldaten der deutschen Bundeswehr stationiert. Sie benötigten die Hilfe mehrerer Tausend Afghanen. Die sogenannten Ortskräfte haben für sie unter anderem als Dolmetscher und Köche gearbeitet. Darunter war auch der Schwiegersohn von Arifis Schwester, während ihr anderer Sohn für die afghanische Armee tätig war. Für die Taliban ist das Hochverrat.
Nachdem ihre Heimatstadt fällt, flüchtet Arifis übrige Familie deshalb in die sicher geglaubte Hauptstadt und lebt dort in einem Zelt. Doch am 15. August tritt schließlich das ein, womit kaum jemand gerechnet hat: Kabul fällt und Präsident Ashraf Ghani flüchtet. „Das tut wirklich sehr weh“, sagt Arifi zur Machtübernahme der Taliban. Diese geben sich nun moderat und tolerant, sprechen von einer allgemeinen Amnestie für Oppositionelle, Pressefreiheit und Frauenrechten. Racheakte werde es keine geben. Tagsüber wahren sie den Schein, der jedoch laut Arifi trügt: „Das ist alles eine große Lüge, sie sind so wie früher. Sie kommen in der Nacht und durchsuchen die Häuser“, sagt dagegen Arifi.
Mit früher meint er die Herrschaft der Islamisten zwischen 1996 und 2001, die er von Erzählungen seiner Familie kennt. Frauen lebten vollverschleiert quasi unter Hausarrest, auf „Ehebruch“stand Steinigung, es kam zu zahlreichen Massakern an der Zivilbevölkerung, Musik war verboten. „Es war ein höllisches Leben“, sagt Arifi. Seine Mutstarb an Spätfolgen durch Misshandlungen der Taliban. Er ist überzeugt: „Was diese Leute tun, hat mit dem Islam nichts zu tun. Die machen, was sie wollen.“
Arifis 17-jähriger Bruder konnte schon Anfang des Jahres in den angrenzenden Iran flüchten und muss dort als schlecht bezahlter Tagelöhner über die Runden kommen. „Es ist schlimm, aber besser als in Afghanistan“, sagt Arifi. Mittlerweile besteht kaum mehr die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Die Landesgrenzen sind dicht, um den Flughafen haben die Islamisten einen Ring aus Kontrollpunkten gezogen. Am Montag bricht schließlich Chaos auf der Rollbahn des Flughafens aus. Die Bilder von Tausenden Menschen, die versuchen, einen Platz in den Evakuierungsfliegern zu bekommen, gehen um die Welt – minmir destens acht Menschen sterben. Arifi rechnet nicht damit, dass seine Schwester und deren Schwiegersohn noch flüchten können. „Es ist zu spät, niemand kommt mehr zum Flughafen“, sagt er verbittert. Von der Bundesregierung hätte er sich mehr Weitsicht und eine frühere Planung erhofft. Monatelang gab es keine Pläne, wie Ortskräfte gerettet werden können. Experten werfen der Bundesregierung hier ein Totalversagen vor. Auch der Schwiegersohn von Arifis Schwester hat in Deutschland Visum beantragt – ohne Antwort.
Arifi kam im Dezember 2015 nach Deutschland, zuerst nach Schrobenhausen, kurz darauf nach Neuburg. Ab April 2016 besuchte er eine Integrationsklasse, in der er Deutsch gelernt hat. Früh bekam er Unterstützung durch den 2013 geter gründeten Verein „Asylsuchende sind Mitbürger“, der Flüchtlingen einen guten Start in der neuen Heimat ermöglichen will. Insbesondere der seit einigen Jahren engagierte Reinhard Wagner kümmert sich um ihn, der 24-Jährige sei ihm ans Herz gewachsen, sagt er. Nebenbei machte Arifi die ersten Praktika im Pflegebereich, weil „mir das Arbeiten mit unterschiedlichen Menschen so viel Spaß macht“, sagt er. 2018 begann er schließlich eine Ausbildung in der Sozialpflege und schloss 2020 eine dreijährige Lehre zum Generalistischen Pflegefachmann an. Damit kann er sowohl in der Krankenpflege, als auch in der Altenpflege arbeiten.
Momentan sind seine Gedanken allerdings in Kabul. Er wird weiterhin versuchen, seine Schwester dort zu erreichen.