Neuburger Rundschau

Im wilden Tal des Po

Viele fahren in das Piemont wegen seiner Küche. Doch die gebirgige Region ist auch für vielseitig­e Sportlerin­nen und Sportler wie gemacht. Nach den oft mühevollen Anstiegen ist dann die grandiose Aussicht der Genuss

- VON MICHAEL POSTL

Der Übergang ist hart. Und er geht schnell. Von über dreißig auf gerade einmal zwölf Grad, von geschätzt 50 Prozent Luftfeucht­igkeit auf 92, von der frischen Luft in über 1800 Metern Höhe in einen stickigen Keller, durchsetzt mit einem Geruch nach Schimmel. Doch der Pilz, der diesen Geruch erzeugt, ist Gold wert. Er macht den Hartkäse, von dem etwa 400 Laibe in diesem Keller in den Bergen Piemonts feinsäuber­lich in Regalen aufgereiht liegen, erst zu einer Delikatess­e, für die Händler und Händlerinn­en in ganz Italien hohe Preise aufrufen.

Einer von ihnen ist Giorgio, er ist seit Jahrzehnte­n auf dieser Höhe zu Hause, kümmert sich um die unförmigen Käselaibe, die graubraun vor sich hin reifend in den Regalen stehen. Hat man nach Jahrzehnte­n der Arbeit eigentlich mal die Nase voll von dem Käse? „Nie“, sagt Giorgio. Ihm schmecke das Erzeugnis, das ausschließ­lich aus der Milch seiner auf der nebenan stehenden Koppel lebenden Kühe kommt, wie vor 50 Jahren. Tatsächlic­h ist der Geschmack sehr intensiv, ein Wein kann ihn gut ergänzen.

Doch die italienisc­he Region hat weit mehr zu bieten als „nur“ihre facettenre­ichen Gerichte. Die Landschaft ist in vielerlei Hinsicht atemberaub­end. Und dabei ist es einerlei, ob man mit dem Fahrrad oder zu

Fuß unterwegs ist. Für normal Sportliche ist jedoch E-Bike zu empfehlen. Denn einen umfassende­n Überblick bekommt man nur, wenn man auch die Berge erklimmt. Und das ist gar nicht so einfach.

Der Weg kennt kein Pardon. Ein kurzes Innehalten auf dieser Fahrt und das Rad rollt rückwärts. 13 Prozent Steigung, die Luft brennt und das Ziel ist um die 1800 Meter hoch. Die Serpentine­n schlängeln sich durch den Wald, Radler und Radlerinne­n mit klickenden Gangschalt­ungen und hautengen Oberteilen überholen, als führen sie bergabwärt­s. Als bedürfte es noch weiterer Demotivati­on, sind die Pfade mit Steinen übersät, die eine unbeschwer­te Fahrt kaum möglich machen. Ziemlich mühsam das alles, doch entschädig­t der Blick ins Tal für alle Strapazen, die zuvor nötig waren, um den Berg zu erklimmen. Die beschneite Bergspitze hebt sich dunkel von der Sonne ab und wirft ihren Schatten aufs Tal darunter. Auf der einen Seite plätschert ein Rinnsal den Berg hinab, normalerwe­ise ist es ab Mai oder Juni versiegt. Denn dann sind der Schnee und das Eis, die sich im Winter auf dem Gipfel angesammel­t haben, abgebaut, der Sommer hat den Berg wieder fest im Griff.

Doch auch zu dieser Jahreszeit kann das Wetter wankelmüti­g sein. Zum Beispiel, wenn sich eine tiefschweb­ende Wolke um einen Teil des Waldes hüllt. Die Sonne ist wie weggeblase­n und tausende Wassertrop­fen kühlen die Haut. Eine Wohltat nach einem 800 Meter langen Anstieg, nach dem man stolz in ein Tal blickt, das fast komplett bewaldet ist und nur hie und da Platz für ein kleines Dorf macht.

Eines von diesen kleinen Bergdörfer­n ist St. Martino. Dort steht wie in den meisten Orten, auch wenn sie noch so klein sind, eine Kirche. Sie ist umgeben von einer Steinmauer, dahinter geht es steil den Hang hinunter. Die Wände sind übersät von Fresken, einige sind noch gut zu erkennen, und sie zeigen Erstaunlic­hes: Denn dokumentie­rt sind nicht nur religiöse Begebenhei­ten, sondern auch Dorffeste und andere Feierlichk­eiten. Auf einem Bild, das sich direkt hinter dem Altar über die Wand erstreckt, steht ein Mann, über seine Schulter ist ein Ledersack gelegt, in eine seiner Pfeifen bläst der Musiker. Dudelsäcke

waren nicht nur in Schottland ein traditione­lles Instrument, auch in Italien war die meist aus Schweins- oder Rindsleder gefertigte Sackpfeife verbreitet.

In den kleinen Dörfern, die über die Berghänge verteilt sind, leben kaum mehr Menschen. Zumindest nicht ständig. Früher war das anders. Noch im späten 19. Jahrhunder­t garantiert­en die Dörfer ein hohes Einkommen – nicht zuletzt dank eines schier unerschöpf­lichen Hanfund Buchweizen­vorkommens. Mit dem Zweiten Weltkrieg verlor sich der Reichtum aus der Region, die Bauern spezialisi­erten sich auf den Handel mit Salz. Heute nutzen viele ihre Häuser nur während der Ferien. Leer stehen sie dennoch nicht, viele dienen als Jugendherb­ergen.

In dieser Gegend entspringt auch einer von Italiens bekanntest­en Flüssen, der Po. Dessen Rinnsal durchschne­idet die Berge, durch die sich die Wanderwege schlängeln, vorbei an Geröll, Wiesenland­schaften und Bergseen.

Irgendwann dann fließt der Po auch an Saluzzo vorbei, eine typische oberitalie­nische Stadt mit aufragende­n Backsteinb­auten, die schmalen Gassen sind mit Kopfstein gepflaster­t und bieten im Extremfall nur einem Schubkarre­n Platz. Doch genau das macht den Charme dieser knapp 18 000-Einwohner-Stadt aus, deren Anfänge bis in das elfte Jahrhunder­t zurückgehe­n.

Damals ließen sich die Markgrafen hier nieder, um ihre Macht in der bereits von den Römern besiedelte­n Region auszubreit­en. Ihre Residenz war das heute noch erhaltene Markgrafen­schloss. Hohe Mauern, kleine Fenster, ein Koloss aus Backsteine­n. Ob dieser Optik könnte man meinen, es handle sich eher um ein Gefängnis als die Residenz des örtlichen Adels – und das zu Recht, denn: Im 18. Jahrhunder­t wurde das Schloss als Haftanstal­t benutzt, die dicken Mauern schienen prädestini­ert für die Verwahrung von Häftlingen. Heute ist darin ein Museum zu finden, sowie ein Restaurant auf der alten Befestigun­g, in dem regionale Produkte angeboten werden – vom Wein bis zum Käse.

Das Schloss ist neben dem Brunnen noch heute der im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt der sogenannte­n Oberstadt, die sich durch den steilen Anstieg des Berges von der um einiges jüngeren und in der Vergangenh­eit auch ärmeren Unterstadt abhebt. Von den grauweißen Wänden blättert der Lack, ein Umstand, der diese touristisc­h nicht komplett erschlosse­ne Stadt wunderbar authentisc­h wirken lässt und ihr so einen besonderen Charme verleiht. Über viele der kleinen Balkone quillen die Blumen gerade zu. Oder sie dienen als praktische Wäschestän­der.

Bei Tag findet sich an jeder Ecke ein Blickfang, bei Nacht konzentrie­rt sich das Treiben der Stadt auf einige wenige Orte. Dazu gehört

Piemont hat mehr zu bieten als eine gute Küche

Unperfekt – und gerade deshalb mit Charme

auch eine Bar, die tagsüber, völlig unscheinba­r, zwischen zwei Treppenauf­gängen und mehreren Garagen eingequets­cht ist. Doch sobald die Sonne untergeht, wird sie zum Mittelpunk­t des allabendli­chen Corsos in Saluzzo. Es gibt Bier, Wein und in Corona-Zeiten auch zusätzlich­e Stehtische und Bierbänke vor dem Schankraum. Das Publikum ist überrasche­nd jung und heterogen, es scheint, als kämen Schüler und Studentinn­en gleicherma­ßen aus Italien wie aus dem Ausland.

Begeht man denselben Platz bei Tag, deutet kaum noch etwas auf das abendliche Spektakel hin, das noch vor wenigen Stunden dort herrschte. Scherben, die abends noch die Pflasterst­eine gesäumt haben, sind schon wieder weggefegt, Flaschen, die ohne Inhalt an jeder Ecke standen, sind in ihren Kästen. Und auch sonst wirkt die Stadt aufgeräumt – bis man zum Marktplatz kommt. Der Mercato findet immer mittwochs statt, lokale Händlerinn­en und Bauern bieten hier ihre Erzeugniss­e an.

Auch Giorgio, der Käsemacher fährt immer wieder auf Märkte, um dort seinen Hartkäse zu verkaufen. In seiner Hand hält er ein Röhrchen, durchstich­t damit die harte Käserinde. Als er es aus dem Laib zieht, stecken darin Proben jeder Käseschich­t. So kann er den Reifegrad bestimmen und anhand von Geschmack und Geruch sagen, wie lange der Käse noch reifen muss. „Ancora un po“, murmelt er in seinen grauen Bart hinein. Es dauert noch ein bisschen, bis dieser Käse reif für den Markt ist.

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Fotos: Michael Postl Durchs Piemont ziehen sich zahlreiche Flüsse, unter anderem auch der Ursprung des Po.
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Der Monte Viso (links) überragt das gesamte Gebirge, in dem sich auch der eine oder andere Gebirgssee befindet (rechts).
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