Im wilden Tal des Po
Viele fahren in das Piemont wegen seiner Küche. Doch die gebirgige Region ist auch für vielseitige Sportlerinnen und Sportler wie gemacht. Nach den oft mühevollen Anstiegen ist dann die grandiose Aussicht der Genuss
Der Übergang ist hart. Und er geht schnell. Von über dreißig auf gerade einmal zwölf Grad, von geschätzt 50 Prozent Luftfeuchtigkeit auf 92, von der frischen Luft in über 1800 Metern Höhe in einen stickigen Keller, durchsetzt mit einem Geruch nach Schimmel. Doch der Pilz, der diesen Geruch erzeugt, ist Gold wert. Er macht den Hartkäse, von dem etwa 400 Laibe in diesem Keller in den Bergen Piemonts feinsäuberlich in Regalen aufgereiht liegen, erst zu einer Delikatesse, für die Händler und Händlerinnen in ganz Italien hohe Preise aufrufen.
Einer von ihnen ist Giorgio, er ist seit Jahrzehnten auf dieser Höhe zu Hause, kümmert sich um die unförmigen Käselaibe, die graubraun vor sich hin reifend in den Regalen stehen. Hat man nach Jahrzehnten der Arbeit eigentlich mal die Nase voll von dem Käse? „Nie“, sagt Giorgio. Ihm schmecke das Erzeugnis, das ausschließlich aus der Milch seiner auf der nebenan stehenden Koppel lebenden Kühe kommt, wie vor 50 Jahren. Tatsächlich ist der Geschmack sehr intensiv, ein Wein kann ihn gut ergänzen.
Doch die italienische Region hat weit mehr zu bieten als „nur“ihre facettenreichen Gerichte. Die Landschaft ist in vielerlei Hinsicht atemberaubend. Und dabei ist es einerlei, ob man mit dem Fahrrad oder zu
Fuß unterwegs ist. Für normal Sportliche ist jedoch E-Bike zu empfehlen. Denn einen umfassenden Überblick bekommt man nur, wenn man auch die Berge erklimmt. Und das ist gar nicht so einfach.
Der Weg kennt kein Pardon. Ein kurzes Innehalten auf dieser Fahrt und das Rad rollt rückwärts. 13 Prozent Steigung, die Luft brennt und das Ziel ist um die 1800 Meter hoch. Die Serpentinen schlängeln sich durch den Wald, Radler und Radlerinnen mit klickenden Gangschaltungen und hautengen Oberteilen überholen, als führen sie bergabwärts. Als bedürfte es noch weiterer Demotivation, sind die Pfade mit Steinen übersät, die eine unbeschwerte Fahrt kaum möglich machen. Ziemlich mühsam das alles, doch entschädigt der Blick ins Tal für alle Strapazen, die zuvor nötig waren, um den Berg zu erklimmen. Die beschneite Bergspitze hebt sich dunkel von der Sonne ab und wirft ihren Schatten aufs Tal darunter. Auf der einen Seite plätschert ein Rinnsal den Berg hinab, normalerweise ist es ab Mai oder Juni versiegt. Denn dann sind der Schnee und das Eis, die sich im Winter auf dem Gipfel angesammelt haben, abgebaut, der Sommer hat den Berg wieder fest im Griff.
Doch auch zu dieser Jahreszeit kann das Wetter wankelmütig sein. Zum Beispiel, wenn sich eine tiefschwebende Wolke um einen Teil des Waldes hüllt. Die Sonne ist wie weggeblasen und tausende Wassertropfen kühlen die Haut. Eine Wohltat nach einem 800 Meter langen Anstieg, nach dem man stolz in ein Tal blickt, das fast komplett bewaldet ist und nur hie und da Platz für ein kleines Dorf macht.
Eines von diesen kleinen Bergdörfern ist St. Martino. Dort steht wie in den meisten Orten, auch wenn sie noch so klein sind, eine Kirche. Sie ist umgeben von einer Steinmauer, dahinter geht es steil den Hang hinunter. Die Wände sind übersät von Fresken, einige sind noch gut zu erkennen, und sie zeigen Erstaunliches: Denn dokumentiert sind nicht nur religiöse Begebenheiten, sondern auch Dorffeste und andere Feierlichkeiten. Auf einem Bild, das sich direkt hinter dem Altar über die Wand erstreckt, steht ein Mann, über seine Schulter ist ein Ledersack gelegt, in eine seiner Pfeifen bläst der Musiker. Dudelsäcke
waren nicht nur in Schottland ein traditionelles Instrument, auch in Italien war die meist aus Schweins- oder Rindsleder gefertigte Sackpfeife verbreitet.
In den kleinen Dörfern, die über die Berghänge verteilt sind, leben kaum mehr Menschen. Zumindest nicht ständig. Früher war das anders. Noch im späten 19. Jahrhundert garantierten die Dörfer ein hohes Einkommen – nicht zuletzt dank eines schier unerschöpflichen Hanfund Buchweizenvorkommens. Mit dem Zweiten Weltkrieg verlor sich der Reichtum aus der Region, die Bauern spezialisierten sich auf den Handel mit Salz. Heute nutzen viele ihre Häuser nur während der Ferien. Leer stehen sie dennoch nicht, viele dienen als Jugendherbergen.
In dieser Gegend entspringt auch einer von Italiens bekanntesten Flüssen, der Po. Dessen Rinnsal durchschneidet die Berge, durch die sich die Wanderwege schlängeln, vorbei an Geröll, Wiesenlandschaften und Bergseen.
Irgendwann dann fließt der Po auch an Saluzzo vorbei, eine typische oberitalienische Stadt mit aufragenden Backsteinbauten, die schmalen Gassen sind mit Kopfstein gepflastert und bieten im Extremfall nur einem Schubkarren Platz. Doch genau das macht den Charme dieser knapp 18 000-Einwohner-Stadt aus, deren Anfänge bis in das elfte Jahrhundert zurückgehen.
Damals ließen sich die Markgrafen hier nieder, um ihre Macht in der bereits von den Römern besiedelten Region auszubreiten. Ihre Residenz war das heute noch erhaltene Markgrafenschloss. Hohe Mauern, kleine Fenster, ein Koloss aus Backsteinen. Ob dieser Optik könnte man meinen, es handle sich eher um ein Gefängnis als die Residenz des örtlichen Adels – und das zu Recht, denn: Im 18. Jahrhundert wurde das Schloss als Haftanstalt benutzt, die dicken Mauern schienen prädestiniert für die Verwahrung von Häftlingen. Heute ist darin ein Museum zu finden, sowie ein Restaurant auf der alten Befestigung, in dem regionale Produkte angeboten werden – vom Wein bis zum Käse.
Das Schloss ist neben dem Brunnen noch heute der im wahrsten Sinne des Wortes Höhepunkt der sogenannten Oberstadt, die sich durch den steilen Anstieg des Berges von der um einiges jüngeren und in der Vergangenheit auch ärmeren Unterstadt abhebt. Von den grauweißen Wänden blättert der Lack, ein Umstand, der diese touristisch nicht komplett erschlossene Stadt wunderbar authentisch wirken lässt und ihr so einen besonderen Charme verleiht. Über viele der kleinen Balkone quillen die Blumen gerade zu. Oder sie dienen als praktische Wäscheständer.
Bei Tag findet sich an jeder Ecke ein Blickfang, bei Nacht konzentriert sich das Treiben der Stadt auf einige wenige Orte. Dazu gehört
Piemont hat mehr zu bieten als eine gute Küche
Unperfekt – und gerade deshalb mit Charme
auch eine Bar, die tagsüber, völlig unscheinbar, zwischen zwei Treppenaufgängen und mehreren Garagen eingequetscht ist. Doch sobald die Sonne untergeht, wird sie zum Mittelpunkt des allabendlichen Corsos in Saluzzo. Es gibt Bier, Wein und in Corona-Zeiten auch zusätzliche Stehtische und Bierbänke vor dem Schankraum. Das Publikum ist überraschend jung und heterogen, es scheint, als kämen Schüler und Studentinnen gleichermaßen aus Italien wie aus dem Ausland.
Begeht man denselben Platz bei Tag, deutet kaum noch etwas auf das abendliche Spektakel hin, das noch vor wenigen Stunden dort herrschte. Scherben, die abends noch die Pflastersteine gesäumt haben, sind schon wieder weggefegt, Flaschen, die ohne Inhalt an jeder Ecke standen, sind in ihren Kästen. Und auch sonst wirkt die Stadt aufgeräumt – bis man zum Marktplatz kommt. Der Mercato findet immer mittwochs statt, lokale Händlerinnen und Bauern bieten hier ihre Erzeugnisse an.
Auch Giorgio, der Käsemacher fährt immer wieder auf Märkte, um dort seinen Hartkäse zu verkaufen. In seiner Hand hält er ein Röhrchen, durchsticht damit die harte Käserinde. Als er es aus dem Laib zieht, stecken darin Proben jeder Käseschicht. So kann er den Reifegrad bestimmen und anhand von Geschmack und Geruch sagen, wie lange der Käse noch reifen muss. „Ancora un po“, murmelt er in seinen grauen Bart hinein. Es dauert noch ein bisschen, bis dieser Käse reif für den Markt ist.