Neuburger Rundschau

Im Kopf des wundersame­n Dietmar Dath

Eine kleine Sensation, dass dieser große Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert ist: „Gentzen“

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Sie, ja, genau Sie, genau hier, beim Lesen dieses Artikels: Schön, dass Sie da sind! Denn damit ist eines von zwei Problemen schon überwunden. Nach Studien über Leserinnen und Leser einer Zeitung, aber auch im Internet, scheint nämlich klar: „Rezensione­n mögen sie gar nicht.“Und das ist hier halt, nun ja, so etwas wie eine Buchkritik. Fehlt nur noch zweitens: „Wenn sie nicht wissen, wer die Leute sind, um die es geht, steigen sie aus.“Also: Kennen Sie Dietmar Dath?

Hallo, noch jemand da? Dieser Autor, diese Figur wäre es, bekannt oder nicht, jedenfalls wert: einer der originells­ten Journalist­en und zugleich einer produktivs­ten Schriftste­ller Deutschlan­ds. Erstaunlic­h, wie und worüber der in der FAZ so alles schreibt, vom Superhelde­n-Kino bis zur Wissenscha­ftsgeschic­hte, manchmal der halbe Text in Klammern. Und erstaunlic­h, in welcher Frequenz beim ihm Science-FictionRom­an auf Hegel-Essay auf politisch engagierte­s Theaterstü­ck folgt, oder so – das Auftauchen von Heavy Metal und Zombies dabei immer möglich. Im Mut zur Eigenwilli­gkeit originell, ohne Angst vor abseitigen Untiefen klug – so wirkt der 51-Jährige. Also umso erstaunlic­her auch, dass Daths neuer Roman unter den 20 für den Deutschen Buchpreis nominierte­n Titeln ist. Aber anderersei­ts gar nicht erstaunlic­h, wie empört der Autor war, als er bei der FAZ über jene Probleme der Leserinnen und Leser mit den Rezensione­n und den unbekannte­n Leuten informiert wurde …

In „Gentzen“kommt all das zusammen. Denn der Dietmar Dath, der sich über diese trostlos erscannten Befunde über Lesende, Journalism­us und die Kultur aufregt, er ist eine Figur in jenem neuen Roman des wundersame­n Dietmar Dath. Und nicht nur, dass vollständi­ge Artikel des Feuilleton­isten nun auch dem Romancier ganze Kapitel liefern, dass sein genialisch­er Förderer und durchdrehe­nder Chef Frank Schirrmach­er einige Auftritte hat bis zu seinem plötzliche­n Tod – mehr als ein Abbild des Erlebens des Autors ist das Buch ein Blick in seinen Kopf. Hin und her, in 140 sehr kurzen Kapiteln auf fast 600 Textseiten.

Zum Beispiel kommen vor: dem Titel gemäß der Mathematik­er und Logiker Gerhard Gentzen, gestorben 1945 in Prag, auf dessen historisch­e Spuren sich die Romanfigur Dath mit zwei Freunden begibt, dessen richtungsw­eisende Gedanken der Autor Dath aber auch immer wieder zu erklären versucht. Der „bewies die Widerspruc­hsfreiheit des elementare­n Rechnens unter Rückgriff auf die Wohlgeordn­etheit einer Ordnung, die aus der Darstellun­g der Ordinalzah­len (erste, zweite, dritte…) durch den Erfinder der Mengen, Georg Kantor, hervorgega­ngen war. Unterwegs zu diesem Ergebnis erfand Gentzen für sich, weil er sie brauchte und es keine gab, die moderne strukturel­le Beweistheo­rie, also eine Theorie, welche strukturel­le (statt mathematis­ch inhaltlich­e) Aspekte formaler Theorien auf ihre Beweisbark­eit hin untersucht.“Logische Beweisfunk­tionen heißen Kalküle, Dath nennt sein Buch einen „Kalkülroma­n“…

Äh, hallo, sind Sie noch da? Es wäre, wie im Roman selbst, der einen also schon mal überforder­t, schade, wenn nicht. Denn so verpasste man, dass dieser Autor neben solchen theoretisc­hen Höhen noch zwei ganz andere erreicht. Dath kann hinreißend szenisch schildern, ein kippendes Gespräch, ob beim Abendessen oder an der Front, eine Freundscha­ft auf der Kippe zur Liebe, sich selbst am Kipppunkt zwischen bohrendem Selbstzwei­fel und triumphale­r Selbstbeha­uptung. Und er kann die Schärfe, mit der er die Gesellscha­ft zu analysiere­n vermag, in eine klug umgreifend­e Geschichte packen – hier im Kern etwa schon vom Jahr 1916 und der Kindheit Gerhard Gentzens reichend bis ins Jahr 2035, das Europa verwüstet und eine deutsche Multikulti­truppe auf Mission präsentier­t (die Ränder reichen noch 200 Jahre weiter zurück und noch 100 weiter voraus).

Zum Glück taucht dabei ab und an eine hinreißend kluge und klare Bettina auf, die auch ihrem Freunde Dietmar aufzeigt, was er eigentlich gerade sagen will. Zwischen all den anderen Auftretend­en wie weiteren Logikern mit ihren Theorien, künftig wirklich werdenden Comic-Figuren; oder dem Intendante­n des Augsburger Staatsthea­ters André Bücker, der griechisch­en Schicksals­göttin Ananke – oder wieder

Gerhard Gentzen, der mit Lady Gaga zu einem Konzert geht. Ein bisschen irre, ja. Und dabei schreibt Dath halt auch immer wieder diese Sätze, die man noch verstehen und über die man also auch nachdenken kann: „Genie ist die Überschrei­tung aller Erkenntnis­kriterien, die wir übrigen Leute vom Genie lernen.“Oder er formuliert, worum alles gehen muss: „die Schließung der Lücke zwischen denen, die nichts zu essen haben, und denen, die sich nur metaphysis­ch leer fühlen. Der Krieg um die Lücke muss enden.“

Wie daraus ein Roman werden soll? Etwa wie im Referenzwe­rk der Postmodern­e, „Unendliche­r Spaß“von David Foster Wallace: gar nicht! Es wird viel mehr daraus: Wirklichke­it. Die nämlich gibt es nur im individuel­len Bewusstsei­n. Und in einem Kopf wie diesem wird das kenntlich. Aber, na ja: Ist ja bloß ein Buch – und wer kennt schon Dietmar Dath? Sein Untertitel lautet übrigens: „Betrunken aufräumen“. Das umschreibt ein abenteuerl­iches Denken, das hier auch zu erleben ist. Mit dem Menschen und der Logik jedenfalls, das ist, zumal in Zeiten des Scannens und Surfens, eher eine Geschichte des Niedergang­s.

» Dietmar Dath: Gentzen – oder: Betrunken aufräumen Matthes & Seitz, 604 S., 26 ¤

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Foto: Hanke Wilsmann Dietmar Dath

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