„Wir brauchen Investitionen in die Zukunft“
Der Ökonom Marcel Fratzscher sagt, was die nächste Bundesregierung anpacken muss, warum Deutschland mehr Bescheidenheit guttäte und was sich hiesige Politiker vom italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi abschauen können
Herr Professor Fratzscher, wie steht Deutschland nach eineinhalb Jahren Pandemie wirtschaftlich da?
Marcel Fratzscher: Deutschland ist deutlich besser durch die Pandemie gekommen als befürchtet. Und auch besser als alle unsere Nachbarländer. Das liegt zum einen daran, dass die Pandemie bei uns stärker begrenzt werden konnte – übrigens auch dank einer starken Solidarität in der Bevölkerung. Das ist auch ein Erfolg der Regierung, auch wenn viele auf die Politik schimpfen. Und dann hat der deutsche Staat mit seinen wirtschaftlichen Hilfsprogrammen – von den Überbrückungshilfen bis zur zwischenzeitlichen Senkung der Mehrwertsteuer – mehr getan hat als jedes andere Land der Welt. Keine andere Regierung hat so großzügige Hilfen gewährt. Auch das Kurzarbeitergeld ist ein Riesenerfolg.
Dann ist alles in schönster Ordnung? Fratzscher: Nein, natürlich nicht. Was mir wirklich Angst macht, sind nicht die letzten eineinhalb Jahre oder die kommenden PandemieMonate, sondern die langfristigen Herausforderungen, die der deutschen Wirtschaft bevorstehen. Denn wir sind im Vergleich härter getroffen, wenn es um den Sozialstaat, den Klimaschutz oder die digitale Transformation geht. Wir haben einen sehr großen Nachholbedarf, wie man an einer der wichtigsten Branchen, der Automobilindustrie, sehen kann. Da wurde in den letzten zehn Jahren vieles verschlafen.
Die Pandemie ist nicht vorbei, aber es fehlen schon wieder Fachkräfte. Wie kriegen wir das in den Griff? Fratzscher: Heute schon fehlen uns die Fachkräfte vorne und hinten. Wir haben eine der ältesten und weiter alternden Gesellschaften in Europa. Das heißt: In den nächsten zehn Jahren werden bei uns vier Millionen Jobs wegfallen. Das Problem wird sich weiter verschärfen. Entsprechend steht auch unser Sozialsystem vor einer gigantischen Herausforderung. Das macht mir wirklich Sorgen. Die letzten zehn Jahre waren wirtschaftlich sehr gut, aber die wichtigen Weichenstellungen wurden nicht gesetzt.
Was ist die Lösung?
Fratzscher: Das Problem ist, dass viele Zuwanderung eigentlich nicht wollen. Auch in der Politik nicht. Unser Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist von Anfang an darauf angelegt, Zuwanderung nicht zu fördern, sondern zu verhindern. Die Bedingungen für die Zuwanderung darin sind enorm hoch. Deshalb wird sich am Fachkräftemangel nicht viel ändern. Die beste Chance, die wir haben, ist, dass wir weiterhin von der europäischen Zuwanderung profitieren. Wir müssen besser verstehen, dass Zuwanderung ein Geschenk ist. Für beide Seiten. Ein Geschenk an die, die kommen, die wir mit offenen Armen aufnehmen sollten. Aber eben auch ein Geschenk für uns. Wir müssen als Gesellschaft viel attraktiver, offener und toleranter werden, damit weiterhin Menschen kommen und hier ihre neue Heimat finden wollen.
Was muss die nächste Bundesregierung als Erstes anpacken?
Fratzscher: Ein großes Investitionsprogramm. Also: richtig Geld für den Ausbau erneuerbarer Energien, den Ausbau der digitalen Infrastruktur, der Ladeinfrastruktur und mehr Geld für Bildung. Wir brauchen auch eine grundlegende Steuerreform, die Menschen mit geringen Einkommen entlastet und Anreize für private Investitionen setzt. Wir brauchen Entbürokratisierung, Abbau von Regularien, weniger Besitzstandswahrung. Wir brauchen Investitionen in die Zukunft, auch um wieder mehr Generationengerechtigkeit zu schaffen.
Und wie gelingt das? Steuern rauf oder runter?
Fratzscher: Die Antwort ist: beides. Es gibt kein Land der Welt, dass Arbeit stärker und Vermögen geringer besteuert als Deutschland. Es ist wichtig, mittlere und geringe Einkommen zu entlasten. Wir haben ein Steuersystem, das bestimmten Menschen bei jedem zusätzlichen Euro, den sie verdienen, 70 bis 80 Cent davon wieder nimmt. Das sind starke Fehlanreize.
Und bei den Unternehmen? Fratzscher: Auch hier müssen kleine und mittlere Unternehmen entlastet werden, damit sie investieren können. Nicht das Geld per Gießkannenprinzip verteilen, sondern Möglichkeiten für Sofortabschreibungen. Es muss attraktiv werden, zu investieren. Wir brauchen auch mehr Dynamik auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland müssten zudem vor allem große Vermögen finanziell stärker an den Ausgaben und Aufgaben des Staates beteiligt werden. Das heißt für mich vor allem: Grund und Boden, große Immobilieneigentümer, die steuerlich riesige Vorteile haben. Wir brauchen auch eine faire Erbschaftssteuer, damit nicht Menschen mit geringen Erbschaften prozentual deutlich mehr Erbschaftssteuer zahlen als solche mit sehr hohen Erbschaften. Um es kurz zu machen: Wir brauchen mehr Chancen- und Steuergerechtigkeit, aber vor allem: mehr ökonomische Effizienz und wirtschaftliche Dynamik.
Schwarze Null oder mehr Schulden? Fratzscher: Auch wenn es erst einmal widersprüchlich klingt: Mehr Investitionen und damit auch Schulden heute sind der beste Weg, um langfristig Schulden abbauen und gleichzeitig Wohlstand und gute Jobs sichern zu können. Denn wenn wir als Gesellschaft jetzt den Klimaschutz, die digitale Transformation und das Bildungssystem vernachlässigen, um bloß keine zusätzlichen Schulden aufzubauen, dann werden wir in 20 Jahren nicht nur noch größere Probleme mit Klima und Umwelt haben, sondern die erfolgreichen Unternehmen und guten Jobs werden zunehmend in den USA und Asien sein. Mehr Zukunftsinvestitionen heute führen zu mehr wirtschaftlicher Dynamik und höheren Steuereinnahmen und damit zu einem schnelleren Schuldenabbau.
Wie steht es um Europas Wirtschaft? Fratzscher: Europa ist von der Pandemie viel stärker als alle anderen Teile der Welt betroffen. Und was ich für Deutschland beschrieben habe, gilt in gewisser Weise auch für Europa. Wichtig ist dabei, dass innerhalb Europas den Deutschen oft ein bisschen mehr Bescheidenheit guttun würde. Das betrifft gerade die Diskussionen über die politischen Nachbarn, von denen viele hier denken, die machen alles falsch und nur wir Deutschen machen alles richtig.
Italien wird geliebt und oft belächelt. Wie bewerten Sie Draghis Reformen? Fratzscher: Das ist hervorragend. Er geht ganz schwierige Reformen an und es bleibt sehr zu hoffen, dass Italien damit – endlich – mittelfristig auf den Erholungspfad kommt. Ich bin optimistisch, dass das, was Mario Draghi tut, auch Wirkung zeigt. Ich würde mir wünschen, dass wir Deutschen von unseren Nachbarn lernen wollen. Den Mut, den Mario Draghi in Italien hat, etwas zu verändern, würde ich mir auch in Deutschland wünschen.
Wie ist die wirtschaftspolitische Bilanz von Angela Merkel nach 16 Jahren? Fratzscher: Die ersten fünf Jahre waren schwierig. Sie hat Deutschland übernommen, als das Land 2005 der kranke Mann Europas war. Wir hatten damals über fünf Millionen Arbeitslose. Die Grundlagen für den Aufschwung, der dann folgte, waren aber nicht die Leistung ihrer vier Regierungen. Die Grundlagen dafür wurden vorher in den 90er Jahren und durch die Sozialreformen der rot-grünen Regierung unter Bundeskanzler Schröder gelegt.
2008 kam die Finanzkrise … Fratzscher: Die hat die Bundeskanzlerin hervorragend gemanagt. Und die 2010er Jahre waren wirtschaftlich goldene Jahre. Allerdings waren sie das weniger wegen einer guten Wirtschaftspolitik, sondern sie sind eher das Resultat von Glück. Denn Rot-Grün hatte wichtige Reformen schon auf den Weg gebracht und das
Exportland Deutschland hat massiv von der globalen Nachfrage aus China und anderswo profitiert. Damit hatte die Regierung wenig zu tun. Zugleich hat Deutschland massiv von der Zuwanderung aus Europa profitiert. In manchen Jahren sind netto fast 400000 junge, gut qualifizierte, motivierte Europäer zu uns gekommen, ohne die der deutsche Wirtschaftsboom überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Deshalb würde ich bei der Wirtschaftspolitik sagen, die große Leistung Angela Merkels war die Stabilität in den großen Krisen: globale Finanzkrise, europäische Schuldenkrise, die Krise der Geflüchteten und nun die Pandemie. Aber wichtige Reformen, grundlegende Veränderungen der Wirtschafts- und Steuerpolitik sind in den letzten 16 Jahren zu kurz gekommen. Die Krisenbewältigung war hervorragend, die wirtschaftliche Zukunftsgestaltung absolut unzureichend.
Zum Beispiel?
Fratzscher: Der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Umsetzung der Klimaziele – alles viel zu langsam. Deutschland hat eine der schlechtesten digitalen Infrastrukturen. Das ist für die Wirtschaft ein riesiges Problem. Und dann die Bürokratisierung, deren Ursache ist, dass wir immer mehr in einem Klientel-Staat der Lobbyisten leben, in dem Besitzstandswahrung das größte Ziel ist. Und das, obwohl wir hervorragende staatliche Institutionen haben. Es braucht auch mehr Durchhaltevermögen. Wir sollten, wenn es zum Beispiel um den Aufbau von Windrädern geht, weniger fragen, was die einzelnen Interessensgruppen wollen, sondern breiter gesellschaftlich denken und planen.
Welchen finanziellen Unterschied macht es, wer die Wahl gewinnt? Fratzscher: Union und FDP wollen Steuern massiv für Topverdiener und Unternehmen senken. Sie legen auf Investitionen weniger Wert und wollen den Wandel sehr viel langsamer gestalten. Grüne und SPD sind gewillt, auch Steuererhöhungen in Kauf zu nehmen, um diese Zukunftsinvestitionen tätigen zu können. Ich sage es mal bewusst ein bisschen zugespitzt: Bei Union und FDP ist die Haltung: Jetzt mal langsam, der Markt wird es schon richten, der Staat ist eher das Problem. SPD und Grüne sagen eher: Wir müssen jetzt richtig Gas geben, der Staat muss mehr tun, um auch mehr private Investitionen anzustoßen. Deshalb ist das eine ganz entscheidende Richtungswahl. Auch wenn relativ klar ist, dass weder die eine noch die andere Seite eine Mehrheit erreicht und wir aller Voraussicht nach eine Dreier-Koalition haben werden. Dies wird kluge Kompromisse notwendig machen.