„Die Sekte ist brandgefährlich“
Der OCG wurde vorgeworfen, „Freundes- und Feindeslisten“erstellt zu haben. Juristische Folgen hatte das nicht. Zum Entsetzen der 57-jährigen Aussteigerin Claudia Müller
Frau Müller, was haben Sie gedacht, als Sie von der Einstellung des Vorermittlungsverfahrens der Münchner Generalstaatsanwaltschaft gegen die Sekte OCG um den Schweizer Ivo Sasek hörten? Sie soll – so war der Vorwurf – „Freundes- und Feindeslisten“unter anderem von Spitzenpolitikerinnen und -politikern, auch Landtagsabgeordneten, angelegt haben. Claudia Müller: Ich war entsetzt. Aus meiner Sicht ist es demokratiegefährdend, was Sasek und die OCG, die Organische Christus-Generation, machen – auch mit ihrem Internetportal kla.tv, auf dem antisemitische Verschwörungserzählungen und vieles andere mehr verbreitet werden.
Sie waren Mitglied der Sekte und wurden als Zeugin im Vorermittlungsverfahren vernommen. Letztlich fand die Generalstaatsanwaltschaft „keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein verfolgbares strafbares Verhalten“. Müller: Das ist in diesem Fall das Ergebnis der juristischen Prüfung der Straftatbestände der Volksverhetzung, der Bedrohung und der Aufforderung zu Straftaten, ja. Was die OCG gemacht hat und macht, ist dennoch brandgefährlich. Ich habe ja selbst bei kla.tv mitgearbeitet und ich habe auch selbst Daten gesammelt – über vermeintlich böse Politikerinnen und Politiker oder böse Medienschaffende.
Mit welchem Ziel?
Müller: Mir und anderen Sektenmitgliedern wurde vermittelt, es sei für die Zeit, nachdem das aktuelle Herrschaftssystem gestürzt sei und es darum gehe, zu wissen, wer böse und gut sei. Wir waren der festen Überzeugung: Die Gesellschaft ist kaputt und Sasek und die OCG seien die Lösung für sämtliche Probleme. Wir erhielten Anweisungen zum Erstellen von Listen und durften uns nur persönlich treffen, damit wir nicht abgehört werden könnten. Sasek wird das natürlich dementieren.
Er sagte, die Datensammlung diene nur der „Weiterbildung“.
Müller: Wir sollten Daten, Adressen etwa, von Menschen aus Politik und Gesellschaft in führenden Positionen sammeln, das war recht umfangreich. Ich suchte zunächst Informationen im Internet, auch unter den Gesichtspunkten, die Sasek vorgegeben hatte: Welche Gesinnung haben sie? Welche Ideologie? Welche Rasse? Sind sie jüdisch? Welche sexuelle Orientierung haben sie? Welchen Vereinen gehören sie an? Wen oder was unterstützen sie? Das sollte möglichst flächendeckend sein, für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Es gab schnell auch die Idee der Regie, das ist die Führungsriege der OCG, Politiker zu kontaktieren oder auf Bürgersprechstunden zu gehen. In einem zweiten Schritt überlegten wir, wer potenziell der OCG ideologisch nahestehen und wem man unsere Publikationen oder Videos schicken könnte.
Was war deren Inhalt?
Müller: Die Botschaft war, dass die herkömmlichen Medien sie falsch informierten. Von uns bekämen sie die wahren Hintergründe, zum Beispiel zur Ukraine-Krise.
Sie waren von 2002 bis 2015 Mitglied der Organischen Christus-Generation. Müller: Ich kam über Mitglieder aus
Mertingen im Kreis Donau-Ries, wo ich wohnte, in die Sekte. Schon früh sollte ich sogenannte Dienste übernehmen. Ich kam in den „Gravo-Dienst“, von „eingravieren“. Wir versuchten, Leserbriefe in Zeitungen unterzubringen und schulten uns gegenseitig darin, wie man das am besten schafft. Später wurde eine eigene Publikation gegründet, bei der ich von Anfang an dabei war und die eine Million Leserinnen und Leser generieren sollte. Das aber gelang nicht. Schließlich kam das Internetmedium kla.tv. Das baute ich von München aus mit auf.
Wie?
Müller: Ich war für die Redaktion zuständig. Die Beiträge entstanden ja in Heimstudios und wurden anschließend digital bearbeitet. Ich schulte Sektenmitglieder, schrieb selber und redigierte Texte. Ich gehe stark davon aus, dass es den kla.tvStandort Mertingen nach wie vor gibt. Mertingen war, zumindest zu meiner Zeit, in Bayern einer der Hauptstandorte der OCG.
Haben Sie Sektengründer Ivo Sasek einmal persönlich kennengelernt? Müller: Ja, obwohl er sich innerhalb der OCG sehr abschottet. Weil er glaubt, dass selbst die meisten Sektenmitglieder gewissermaßen nicht heilig genug seien, um mit ihm in direkten Kontakt zu treten. Er hat damals für seinen Spielfilm „Helden sterben anders“aus dem Jahr 2005 Drehorte gesucht. Ich habe einen Vorschlag gemacht und ihm zwei Orte gezeigt. Er wirkte dabei auf mich eher unscheinbar.
Sie erzählen das sehr offen und unter Ihrem echten Namen. Keine Angst? Müller: Nach meinem Ausstieg hatte ich Todesangst. Ich halte es aber für enorm wichtig, öffentlich zu machen, was die OCG ist und tut. Ich weiß, dass das nicht ganz ungefährlich ist – auch, weil ich fürchte, die OCG radikalisiert sich weiter.
...so beschrieben das Antisemitismusbeauftragte ebenfalls. Der Verfassungsschutz ist mit der OCG vertraut. Müller: Irgendwann war ich an dem Punkt, an dem mir klar wurde: Es geht nicht um Gott und Erlösung, was mir einmal wichtig war. Es geht auch nicht um Liebe, nicht um Gemeinschaft. Es geht Ivo Sasek mit der OCG um Macht. Für mich war das zerstörerisch. Als bemerkt wurde, dass ich nicht zu tausend Prozent mit der Lehre und Ideologie übereinstimme, hat man auf mich eingeredet, mich übel beschimpft und versucht, mich zu manipulieren. Es gab schwere Auseinandersetzungen über Monate. Ich habe mich dann immer mehr von der OCG gelöst, das war ein schwieriger Prozess. Als dies bemerkt wurde, wurde ich noch intensiver bearbeitet. Mir ging es schlecht. Drei, vier Monate vor meinem Ausstieg bin ich nicht mehr zu Veranstaltungen. Als man merkte, dass ich am Aussteigen war, wurde ich zur Rede gestellt. Ich beharrte darauf, dass ich aussteige.
Und dann?
Müller: Es gab Telefonanrufe und Leute standen vor meiner Tür. Im Laufe der Zeit hörte das auf und ich gewann an innerer Sicherheit und verlor nach und nach meine Ängste. Vorsichtig bin ich aber immer noch.