Droht Taiwan das Schicksal der Ukraine?
Der Krieg Russlands gegen sein Nachbarland hat viele Menschen auf der ostasiatischen Insel aufgeschreckt. Sie fürchten Ähnliches, einen Angriff Chinas. Und sie fragen sich besorgt, ob der Westen dann ebenfalls zu ihnen halten würde. Eine Reise in ein Land
Taipeh Lam Wing-kee hat sich auf gut 50 Quadratmetern im Widerstand gegen die chinesische Führung eingerichtet. Draußen schlängeln sich die Mopeds durch die Straßen der geschäftigen Innenstadt Taipehs, drinnen in Wing-kees Laden im zehnten Stock eines schmucklosen Büroblocks herrscht wohltuende Stille unter Neonlicht. In der Ecke das schmale Hochbett, im Rest des Raums Regale voller Bücher, viele über China, viele kritisch gegenüber Staatspräsident Xi Jinping, viele verboten auf dem Festland. An den Wänden mit der feinen Blumentapete hängen Postkarten, die zum Freiheitskampf auffordern, und ein schwarzes Banner, das „Revolution Now“verlangt.
Darunter klebte Wing-kee eine Zeitungsseite, die von den immer wieder auch in Gewalt ausgearteten Protesten in Hongkong erzählt – und so auch von Lam Wingkees Vergangenheit. Er war einer von fünf Buchhändlern aus der sogenannten Sonderverwaltungszone, die im Herbst 2015 von Agenten der chinesischen Führung verschleppt wurden, weil sie Publikationen verkauften, die den Mächtigen in Peking missfielen. Nachdem er 2019 ins Exil nach Taiwan geflohen war, eröffnete er das „Causeway Bay Books“wieder, eine Mischung aus Buchladen und Wohnung – und ein Symbol für Taiwans lebendige Demokratie.
„Kritisches Denken ist der beste Schutz gegen Chinas Regime“, sagt Wing-kee. Der hagere Mann mit der runden Brille, den grau gewordenen Haaren und den Sandalen an den Füßen organisiert regelmäßig Diskussionsrunden. „Nur wenn wir China verstehen, können wir die Führung stürzen“, sagt er. Geprägt von den Erfahrungen in Hongkong, scheint er fast irritiert von der locker wirkenden Stimmung in seiner neuen Heimat. Der 66-Jährige verschränkt jetzt seine Arme und meint: „Taiwan muss aufwachen.“
Seit Jahren nehmen die Spannungen zwischen der Volksrepublik China und der Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, zu. Die Führung in Peking betrachtet die Insel als abtrünnige Provinz und will sie seit 73 Jahren mit der kommunistischen Volksrepublik vereinen, notfalls mit militärischer Gewalt. Um ihren Anspruch auf Taiwan zu untermauern und dessen Luftwaffe unter Druck zu setzen, schickt Peking immer häufiger Kampfjets und Bomber in den Verteidigungsluftraum Taiwans. Drangen 2020 noch rund 370 chinesische Flugzeuge in die „Identifikationszone“ein, waren es 2021 bereits 958, und in diesem Jahr zählte die Regierung in Taipeh bis Juni schon mehr als 600. Die Sorge wächst, der Konflikt im Südchinesischen Meer könne in naher Zukunft eskalieren – und damit eine direkte Auseinandersetzung zwischen den führenden Großmächten USA und China nach sich ziehen.
Der Krieg in der Ukraine hat zumindest die Führung des 23-Millionen-EinwohnerLands endgültig aufgerüttelt. Ein autoritärer Staat, der aus Größenwahn seinen kleineren Nachbarn, noch dazu eine junge
Demokratie, angreift? Die Parallelen sind für die Menschen in Taiwan mehr als offensichtlich. Zwischen Taipeh und Kiew mögen 8000 Kilometer liegen, doch die Angst, dass China von Wladimir Putins Gebaren ermutigt wird, ist groß. Und die Frage lautet: Würde die westliche Gemeinschaft dem Land bei einem chinesischen Angriff ebenso beistehen wie der Ukraine?
Erst diese Woche drohte die chinesische Führung mit „starken und entschlossenen Gegenmaßnahmen“, sollte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi auf die autonom regierte Insel reisen, wie sie es angeblich für August plant. Die meisten Länder erkennen nur die Volksrepublik als souveränen Staat an, darunter Deutschland und die USA. Gleichwohl unterstützt die US-Regierung im Rahmen einer Politik der „strategischen Zweideutigkeit“Taiwan politisch und militärisch, ohne ausdrücklich zu versprechen, der Insel im Kriegsfall zu Hilfe zu kommen. Dennoch: Peking bewertet jedes Zeichen im Sinne Taiwans als Brüskierung.
Das macht die chinesische Führung auch an jenem Morgen vor kurzem deutlich, an dem die bislang ranghöchste Besucherin aus Brüssel in Taipeh landet. Nicola Beer (FDP), Vizepräsidentin des Europäischen
Parlaments, überbringt bei einem dreitägigen Besuch persönlich die Botschaft, dass die EU fest an der Seite Taiwans stehe. Und während Peking über „eine schwere Verletzung des Ein-ChinaPrinzips“schimpft und im Vorfeld einen Flugzeugträger durch die Taiwanstraße, diese 180 Kilometer breite Meeresenge zwischen dem chinesischen Festland und der Insel, schickte, rollt die taiwanische Regierung den roten Teppich aus.
Ein Treffen mit Präsidentin Tsai Ingwen, eines mit Premierminister Su Tsengchang, eines mit Außenminister Joseph Wu – prominenter geht es nicht. Und so wird Beers Besuch wahlweise als „außerordentlich bedeutsam“, als „bedeutendes Zeichen“oder als „höchst bedeutsam“bezeichnet. Beer revanchiert sich und liefert Balsam für die Seele der Nation: „Nur das taiwanische Volk kann über die Zukunft Taiwans entscheiden“, gehört zu jenen Sätzen von ihr, die nickend und lächelnd aufgenommen werden.
Auf der ostasiatischen Insel wurde genau verfolgt, wie sich das EU-Parlament im Oktober 2021 mit großer Mehrheit für eine „umfassende und verstärkte Partnerschaft“mit Taiwan ausgesprochen und seit Februar vergangenen Jahres „20 Resolutionen zugunsten Taiwans“verabschiedet hatte. Dieser Tage werde „mehr denn je über Taiwan geredet“, sagt Außenminister Wu. Schutz durch Sichtbarkeit, so lautet die Hoffnung. Taiwan setzt zudem auf die Stimme Europas, um internationalen Gremien, vorneweg der Weltgesundheitsorganisation beizutreten. „Wir wollen als Mitglied der Familie von Demokratien betrachtet werden“, sagt Wu und nimmt damit Beers Worte auf, die sie während ihres Aufenthalts immer wieder wählt.
Für die Europaabgeordnete soll die Reise aber auch als Forderung an die EUKommission und die Mitgliedstaaten wirken, „sich hier stärker und deutlicher aufzustellen“. Dass die EU etwa „wirklich“ein bilaterales Handelsabkommen anstrebe, auf das die Taiwaner pochen. „Es gilt, auch so eine kleine Insel nicht im Stich zu lassen, wenn es um die Verteidigung von Freiheit, Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht“, sagt sie im Gespräch, ohne an der offiziellen Ein-China-Politik der EU zu rütteln. Nur so viel: „Ich möchte keinen 24. Februar in Taiwan erleben.“Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen und führt dort
seitdem einen brutalen Angriffs- und Vernichtungskrieg. Wenn diese Reise nur ein kleines bisschen dazu beitrage, „dass die Chinesen merken, wir meinen es ernst, hat sie sich schon gelohnt“, glaubt Beer.
Ihr kürzlich zu Ende gegangener Besuch kam dabei zu einem heiklen Zeitpunkt. Xi Jinping will sich im Herbst eine dritte Amtszeit absegnen lassen. Seine „Null Covid“-Strategie lähmt jedoch die Wirtschaft, innenpolitisch ist Chinas Staats- und Parteichef vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der Defensive. Könnte er als „Ablenkungsmanöver“also einen Konflikt anzetteln wollen, wie manche Beobachter befürchten? Und wäre Taiwan ausreichend vorbereitet auf einen Angriff? Präsidentin Tsai Ing-wen verspricht zwar unaufhörlich, die Menschen Taiwans würden ihre Demokratie und Souveränität verteidigen. Doch wie lange könnte Taiwan bei einem Angriff des mächtigen Nachbarn durchhalten?
Die taiwanischen Verteidigungsanlagen sind Berichten zufolge schlecht ausgerüstet und personell unterbesetzt. Experten fordern deshalb eine Erhöhung des Militärbudgets
„Kritisches Denken ist der beste Schutz“, sagt der bekannte Buchhändler
„Die Ukrainer zeigen, dass wir etwas tun können“, meint der Hühnerzüchter
wie auch die Verlängerung des Pflichtwehrdiensts, der derzeit nur vier Monate Grundausbildung vorsieht. „Peking ist gefährlicher als Moskau“, sagt der taiwanische Verteidigungsforscher Jyh-Shyang Sheu. Ohnehin dürfe man nicht alle Erfahrungen aus der Ukraine „kopieren“. Taiwan als Insel sei zwar einfacher zu verteidigen, doch aufgrund der Geografie würde sich die Unterstützung aus dem Westen, vor allem aus den USA, auch schwieriger gestalten. „China wird versuchen, Taiwan zu blockieren.“
Es gibt ein wachsendes Gefühl einer taiwanischen Identität, die sich in Abgrenzung zu China definiert. Das zeigt sich vor allem bei jungen Menschen, die ihr ganzes Leben in Taiwan verbracht haben. Umso aggressiver Peking vorgeht, desto mehr scheinen sie zusammenzurücken. „Wir haben gesehen, wie China in Hongkong seine Versprechen gebrochen hat“, sagt ChengYueh Huang, ein 34-Jähriger, der in Yunlin an der Westküste Zentral-Taiwans Hühnchen züchtet. Das Argument beendet mittlerweile jede Diskussion mit Zweiflern, die mit einem weichen Kurs gegenüber Peking liebäugeln. Huang weiß, dass er vielleicht eines Tages sein Land verteidigen muss. Den Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt er als „Weckruf“wahr, aber auch als Motivation. „Ich dachte, es ist schwierig, sich gegen eine Supermacht zu wehren“, sagt er. „Aber die Ukrainer haben gezeigt, dass wir alle etwas tun können, um unser Land zu schützen.“