„Die Chance ist groß, dass wir bald das Gröbste hinter uns haben“
Der Immunologe Carsten Watzl spricht über Masseninfektionen, wann eine vierte oder fünfte Impfung Sinn macht, was die neuen Omikron-Impfstoffe können – und wie er sich selbst trotz Impfung mit Corona infiziert hat.
Herr Professor Watzl, viele Menschen sind derzeit verunsichert, weil sie sich trotz Impfung mit der Omikron-Variante anstecken. Wie gut wirken die Impfungen noch? Watzl: Auch mich hat Corona gerade erwischt. Jetzt habe ich mir den Omikron-Booster sozusagen auf natürliche Weise ohne neuen Impfstoff geholt. Ich lag zwei Tage mit Fieber im Bett und dann haben die Gedächtniszellen meines Immunsystems aus der Impfung getan, was sie tun sollten, und dann ging es mir schnell besser.
Wie waren Sie vorher geimpft? Dreifach oder vierfach?
Watzl: Dreifach geimpft. Ich habe ja immer gesagt, dass die vierte Impfung mit dem jetzigen Impfstoff für gesunde unter 60-Jährige zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht. Man hat zwar das Risiko einer Infektion, aber man wird nicht wirklich krank. Ich habe im Prinzip darauf gewartet, wann die Omikron-Variante BA.5 auch mich erwischt, auch wenn ich es nicht herausgefordert habe.
Das heißt, Sie unterscheiden bei Corona zwischen infiziert und wirklich krank, obwohl Sie mit Fieber im Bett lagen?
Watzl: Ja, so unterscheidet man in den Studien. Man kann schon Fieber und Symptome haben und eine Woche ausgeknockt sein, dann werten wir das noch als symptomatische Infektion. Ein schwerer Verlauf der Erkrankung bedeutet, wenn man wegen Covid ins Krankenhaus muss oder gar auf die Intensivstation oder schlimmer. Ich kann zwar nachvollziehen, wenn Menschen, die mit Fieber oder noch unangenehmeren Symptomen im Bett liegen, denken: Jetzt bin ich dreimal geimpft, das kann doch nicht sein, da hat die Impfung nicht gewirkt. Doch das stimmt nicht, die Impfung schützt vor der schweren Erkrankung. Manchmal dauert es ein paar Tagen, bis die Immunzellen ihre Arbeit machen.
Wann ist ein Booster sinnvoll? Die Ständige Impfkommission sagt, erst ab 70 Jahren oder für Risikogruppen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach rät es allen Erwachsenen, weil dann auch die reine Infektion seltener ist.
Watzl: Es ist richtig, dass nach der dritten Impfung, die bei vielen ein halbes Jahr oder auch länger her ist, der Schutz vor der reinen Infektion mit der Zeit nachlässt und man vor der reinen Infektion nicht mehr so gut geschützt ist. Aber als gesunde Person ohne Vorerkrankungen ist man immer noch sehr gut vor einem schweren Verlauf
geschützt. Deshalb sehe auch ich eine Empfehlung einer vierten Impfung für alle als nicht sinnvoll an, solange es noch keine neuen Impfstoffe gegen Omikron gibt. Der jetzige Impfstoff wirkt wie eine Auffrischung und stellt mit der vierten Impfung den Schutz wieder her, den man kurz nach der dritten Impfung hatte. Erste Studiendaten zeigen aber, dass die Omikron-Impfstoffe tatsächlich wie ein Booster als Verstärker wirken: Man hat eine deutlich bessere Immunantwort gegen Omikron, als man es nach der dritten Impfung erreicht hat. Deshalb bin ich eher bei der Stiko: Jetzt sollten sich über 70-Jährige und die Risikogruppen zum vierten Mal impfen lassen. Jedem jetzt erst ein viertes Mal Impfen und im Herbst ein fünftes Mal zu raten, das führt eher zu einer Impfmüdigkeit der Bevölkerung.
Was passiert, wenn wir im Winter eine sehr hohe Welle haben? Experten sagen, mit einer BoosterImpfkampagne könnte man sie stärker absenken als mit fast allen anderen Maßnahmen ...
Watzl: Es ist richtig, mit der Kampagne für die dritte Impfung als
Booster haben wir uns erfolgreich aus der Delta-Welle herausgeimpft. Das könnte man mit angepassten Impfstoffen wahrscheinlich auch gegen Omikron schaffen. Die Frage ist, müssen wir das unbedingt? Oder reicht es, wenn wir Infektionen zwar auf hohem Niveau haben, aber nicht so hoch, dass wir große Probleme bekommen? Dazu sind auch Hygienemaßnahmen notwendig. Die Politik muss einen gewissen Maßnahmen-Katalog vorbereiten, den man im Winter hervorholen kann. Man wird keinen Lockdown brauchen, aber Masken in Innenräumen und Regeln für Arbeitsstätten, um zu hohe Infektionszahlen zu begrenzen. Aber nicht nur durch die Impfungen, sondern auch durch die vielen erfolgten Omikron-Infektionen ist die Immunität in der erwachsenen Bevölkerung inzwischen deutlich gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass sie bereits bei 95 Prozent liegt und die Ausgangslage diesen Herbst damit besser ist. Aber es geht immer auch darum, zu viele Krankheitsausfälle zu vermeiden, die in wichtigen Bereichen Probleme bereiten, und auch das Risiko zu vermindern, dass sich vulnerable Gruppen infizieren.
Bereitet es Ihnen Sorge, dass es so viele Intensivpatienten mit Corona gibt wie noch nie im Sommer?
Watzl: Das liegt an den OmikronVarianten. In den vergangenen beiden Sommern hatten wir sehr niedrige Inzidenzzahlen, jetzt sind sie um ein Vielfaches höher. Das erhöht natürlich das Ansteckungsrisiko für vulnerable Gruppen, bei denen aufgrund eines schwächeren Immunsystems die Impfung nicht so gut wirkt. Für die große Risikogruppe der älteren Menschen müssen wir in Deutschland viel stärker konsequent auf antivirale Mittel wie Paxlovid setzen. Hier müssen wir die Betroffenen und die Ärzteschaft aufklären. Ich kenne einige Hausärzte, die bereits ihre Patientenakten durchgehen und Gefährdete aktiv ansprechen, damit sie sofort bei einer möglichen Corona-Infektion in die Praxis für ein Paxlovid-Rezept kommen. Dieses Medikament kann zu 80 Prozent Krankenhausaufenthalte verhindern, wenn es spätestens drei bis fünf Tage nach der Infektion genommen wird. Mittlerweile
haben die deutschen Apotheken das Mittel ausreichend vorrätig, sodass auch bei uns viel mehr verschrieben werden kann. Infizierte können es einfach als Tablette zu Hause einnehmen.
Warum dauert es so lange, bis die angepassten Impfstoffe auf den Markt kommen? Anfangs hieß es April, nun eher Herbst …
Watzl: Beide Hersteller haben auch schon vorproduziert, aber die Zulassungsbehörden wollten klinische Daten im Vergleich zu den bisherigen Impfstoffen. Die Daten liegen nun vor und nun liegt der Ball bei der europäischen Arzneimittelaufsicht EMA und der amerikanischen FDA. Die Daten für den an BA.1 angepassten Impfstoff sehen aber bereits ganz gut aus. Bereits dreifach Geimpfte und auch infiziert und Geimpfte bekommen dadurch einen deutlich besseren Immunschutz.
Was würden Sie denn jetzt jemandem mit 65 raten? Soll man auf den angepassten Impfstoff warten?
Watzl: Wenn man mit 65 ansonsten gesund ist und bereits dreimal geimpft ist, kann man noch ein bisschen warten, um sich den Booster zu holen. Wenn man irgendwelche Vorerkrankungen hat oder stark übergewichtig ist, dann ist es durchaus sinnvoll, sich schon jetzt den vierten Booster zu holen. Dann sollte man mindestens drei Monate warten und kann sich dann den an Omikron angepassten Impfstoff geben lassen. Eine fünfte Impfung ist immunologisch kein Problem, wenn man den empfohlenen Abstand von drei Monaten einhält. Da gibt es kein Überimpfen oder einen negativen Effekt, dass man nach einer neuen Impfung schlechter geschützt wäre als vorher, wenn man die Abstände einhält. Auch das Virus kann sich nie so entwickeln, dass wir wieder bei null anfangen müssten und die Immunität komplett nutzlos wäre. Im Gegenteil, je besser die Immunität der Bevölkerung ist, desto schwieriger fällt es dem Virus, sich erfolgreich zu verändern. Deshalb ist die Chance groß, dass wir nach diesem Winter das Gröbste hinter uns haben.