Abgehoben? Wir doch nicht!
Liz Truss und Rishi Sunak kämpfen in Großbritannien um die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson und wollen sich gleichzeitig von der politischen Elite im Land absetzen – was mitunter zu absurden Situationen führt.
London Rishi Sunak redet gern über seine Familie. Der britische Ex-Minister, der neben seiner Parteifreundin Liz Truss einer der beiden verbliebenen Kandidaten für die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson ist, hat seiner Großmutter und seinen Eltern das erste Drittel seines Wahlvideos gewidmet. Der Politiker der konservativen Partei spricht darin über die Entscheidung seiner Großmutter, in den 60er Jahren nach England auszuwandern – im Gepäck, so erzählt es der Enkel zu sanfter Klaviermusik, „die Hoffnung auf ein besseres Leben“. Er spricht über seine Eltern, die „hart gearbeitet“haben, und über das Land, das ihnen ihr besseres Leben ermöglicht hat – Großbritannien. Eine Aufstiegsgeschichte mit wenig subtiler Botschaft: Rishi Sunak ist ein Mann des Volkes, bescheiden und auf dem Boden geblieben.
Die Erzählung beleuchtet vor allem jene Seite seiner Lebensgeschichte, die in den Ohren der Wählerinnen und Wähler am besten klingt. Und sie spart aus, was der 42 Jahre alte Tory-Politiker auch ist: Ex-Privatschüler, Absolvent der Elite-Universität Oxford, Multi-Millionär mit Mitte 20 und heute durch seine Heirat mit einer indischen Unternehmenserbin einer der reichsten Briten – vermögender sogar als die Queen.
Zu dieser Seite des Mannes, der mit seinem Rücktritt als Schatzkanzler Anfang Juli den Sturz von Boris Johnson eingeleitet hat, passt ein anderes Video aus den Archiven der BBC, das im Internet die Runde macht. Dort spricht der damals 21 Jahre alte Student über seinen Freundeskreis: Er habe „Freunde, die Aristokraten sind, Freunde, die aus der Oberschicht stammen, und Freunde aus der Arbeiterklasse. Naja, nicht aus der Arbeiterklasse.“
Ein solches Video ist Gift in einem Wahlkampf, in dem sich Sunak und seine Rivalin, die amtierende Außenministerin Truss, darin überbieten, zu betonen, wie wenig abgehoben sie sind – eine Angewohnheit, die typisch ist für Großbritannien, ein Land, in dem es einerseits noch mit 30, 40 oder 50 Jahren von Bedeutung ist, welche Schule man als Teenager besucht hat, und in dem sich andererseits selbst Millionäre ohne Zögern der Mittelklasse zurechnen.
Auch Truss versucht, sich als eine Art Anti-Establishment-Politikerin darzustellen. Ihre alte Schule in Leeds, eine staatliche Einrichtung, skizzierte sie – wohl in einem Versuch, sich vom Privatschüler Sunak abzugrenzen – in derart düsteren Farben, dass sich ehemalige Mitschüler öffentlich beschwerten. Wenn Truss, Tochter eines Universitätsprofessors, aus ihrem Leben erzählt, klingt es, als habe sie entgegen allen Widrigkeiten einen Studienplatz – ebenfalls in Oxford – ergattert. Dabei ist diese Aufstiegs-Erzählung wohl nirgendwo in Westeuropa so fehl am Platz wie in Großbritannien.
In kaum einer anderen Nation ist der Zugang zu wichtigen Ämtern so sehr abhängig von der Herkunft, sind die Menschen im Land so sehr fixiert auf die Klassenzugehörigkeit. 28 der 77 vergangenen Premierminister und Premierministerinnen haben in Oxford studiert, 14 in Cambridge. Und während nur etwa ein Prozent der britischen Bevölkerung eine teure Privatschule besucht hat, ist es unter den Premierministern mehr als die Hälfte. Allein 20 von ihnen sind Alumni des berühmten Internats Eton, wo auch die britischen Prinzen William und Harry zur Schule gegangen sind.
Unter den rund 160.000 ToryMitgliedern, die den nächsten Parteichef oder die nächste Parteichefin wählen und damit auch über die Nachfolge von Boris Johnson als Premierminister entscheiden, dürfte ein solcher Lebenslauf trotzdem eher förderlich sein. Die meisten von ihnen sind männlich, weiß, wohlhabend. Und auch die herrschende Klasse im Londoner Regierungsviertel Westminster spiegelt die britische Gesellschaft nur mangelhaft wider. Während in Großbritannien mehr als ein Drittel
aller Beschäftigten der Arbeiterklasse zugerechnet wird, kommt nur ein Prozent der ToryAbgeordneten im Unterhaus aus einfachen Verhältnissen, wie eine neue Studie des Institute for Public Policy Research zeigt. Selbst in der sozialdemokratischen Labour-Partei sind es nur 13 Prozent, seit den 80ern hat sich der Wert mehr als halbiert. „Zu viele Wähler haben das Gefühl, dass ihre Stimme in der britischen Demokratie nicht gehört wird und ihr Abgeordneter oder ihre Abgeordnete nicht ihre Interessen vertritt“, betont der Macher der Studie, Harry Quilter-Pinner. „Das führt letztlich dazu, dass das Vertrauen in Politik und die Demokratie immer mehr sinkt.“
Rishi Sunak und Liz Truss sorgen sich im Duell um die JohnsonNachfolge aktuell jedoch eher darum, wie sie die Tory-Mitglieder auf ihre jeweilige Seite ziehen können. Anstatt um die hohen Lebenshaltungskosten, unter denen viele Britinnen und Briten aktuell leiden, geht es also eher um klassisch konservative Themen: Steuersenkungen,
die Brexit-Abwicklung, Zuwanderung. Sunak will die Einwanderung nach Großbritannien übrigens stark begrenzen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben, mit der seine Großmutter einst ein Flugzeug bestieg – für viele Flüchtlinge würde sie sich auch unter einem Premier Sunak nicht erfüllen.