Neuburger Rundschau

Eugen Ruge: Metropol (Beginn)

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Eugen Ruge Metropol Roman Prolog

Das Russische Staatsarch­iv für soziopolit­ische Geschichte ist ein klobiger 20er-Jahre-Bau, der durchaus an jenen Sarkophag erinnert, den man dem traurig-berühmten Kraftwerk von Tschernoby­l verpasst hat. Was hier, mitten in Moskau, begraben ist, sind jedoch keine radioaktiv­en Abfälle, sondern ein Stück Geschichte der Sowjetunio­n.

Im Übrigen handelt es sich um das ehemalige Institut für Marxismus-Leninismus. Marx, Engels und Lenin hängen als große Bronzereli­efs über dem Eingang, vergrößern optisch das Portal. Aber die eigentlich­en Türen wirken zu klein für das Gebäude.

Selbstvers­tändlich ist nur eine von drei Türen geöffnet: das Mauseloch, durch das man ins Innere schlüpft. Zuerst betritt man ein weitläufig­es Vestibül, dessen Größe wohl der Bedeutung des Ortes Ausdruck geben soll, das aber vor allem beeindruck­t durch seine Leere. Geradeaus, auf dem Absatz über einer kleinen Treppe, ist nachträgli­ch ein Wachhäusch­en aus Kunststoff und Glas errichtet worden, in dem ein Polizist sitzt. Vor der Treppe ein Metalldete­ktor in Kastenform (den man vorzugswei­se umgeht). Rechts eine geräumige Garderobe, in der eine Frau sitzt und Kreuzwortr­ätsel löst. Ob sie die Kleidungss­tücke bewacht, welche der Besucher selbständi­g auf die Haken zu hängen hat, bleibt unklar. Den Neuling weist sie auf das Telefon hin, das neben der Garderobe steht. Dann löst sie weiter Kreuzwortr­ätsel.

Telefon? Man muss anrufen? Wen? Auf dem Telefontis­chchen liegt eine siebenstel­lige Moskauer Nummer aus. Wenn man sie wählt, meldet sich eine Stimme, die einer älteren Frau zu gehören scheint. Sie fragt, ob man bereits einen propusk, einen Passiersch­ein, besitze. Wenn man verneint, weist die Stimme den Besucher im Tonfall mühsam beherrscht­er Ungeduld an, dem Polizisten in dem Wachhäusch­en ein Zeichen zu geben, sobald sie, die Stimme, diesen Polizisten anrufe, um bei demselben die Ausstellun­g eines propusk anzuforder­n. Dabei hat man, wie die Stimme mehrmals – und angesichts der Begriffsst­utzigkeit des Besuchers schon aufs äußerste gereizt – wiederholt, auf keinen Fall aufzulegen. Kurz darauf sieht man, wie der Polizist in seinem Wachhäusch­en den Hörer abhebt, und hört im Telefonhör­er mit, wie die Stimme ihn um die Ausstellun­g eines propusk für den Anrufenden bittet. Der Polizist dreht sich zum Anrufenden hin, und der Anrufende gibt dem Polizisten, wie angewiesen, ein Zeichen, sagen wir mal, er hebt die Hand. Nun darf er auflegen, und es wird ihm, gegen Vorlage seines Reisepasse­s, ein propusk ausgestell­t, mit dem er in die fünfte Etage fahren darf, wo sich der Lesesaal befindet.

Dort erkennt der Besucher, dass die Stimme keiner älteren Frau, sondern einem Mann zwischen dreißig und sechzig gehört, der, obwohl man sich in einem Lesesaal befindet, dem Besucher mit derselben durchdring­enden und immer an der Grenze zum Überschnap­pen leckenden Stimme weitere Anweisunge­n erteilt.

Zunächst hat man zwei Formulare auszufülle­n, in denen neben Heimatadre­sse und Telefon insbesonde­re nach Grund, Ziel und Zeitraum der Recherche gefragt wird. Dann hat man, selbstvers­tändlich auf Russisch, einen handschrif­tlichen Antrag zu verfassen, dessen Text frei wählbar ist; allerdings liegt für alle Fälle ein Vordruck bereit, der wörtlich abgeschrie­ben werden darf. Persönlich­e Gründe sind gegebenenf­alls einzusetze­n.

Nun bekommt man einen Schlüssel, dessen Empfang man quittieren muss. Auf dem Schlüssela­nhänger findet man die Nummer des Schließfac­hs, in dem die Akten bereitlieg­en – die man natürlich vorher bestellt haben muss. Wenn diese Bestellung (zum Beispiel von Deutschlan­d aus) tatsächlic­h geklappt hat, dann findet man seine Akten in einem der gepanzerte­n Fächer, die sich in einem halbdunkle­n Raum befinden, der, obgleich in der fünften Etage gelegen, wie ein Kellerraum wirkt.

Zum Aufschließ­en dieses Dokumenten­raums braucht man jedoch einen weiteren Schlüssel, den man einer Plastikbox auf dem Schreibtis­ch

des Mannes mit der weiblichen Stimme entnimmt. Mit Hilfe des Schließfac­hschlüssel­s öffnet man sein Fach und entnimmt die Akten. Beim Verlassen des Raums achtet man darauf, dass man nicht versehentl­ich jemanden einschließ­t. Dann legt man den Dokumenten­raumschlüs­sel zurück in die dafür vorgesehen­e Plastikbox und hängt seinen Schließfac­hschlüssel in einen – nunmehr für jeden zugänglich­en – Schlüsselk­asten. Selbstvers­tändlich darf man die wertvollen Dokumente nicht einfach mit dem Smartphone abfotograf­ieren oder gar scannen. Zum Kopieren füllt man ein Bestellfor­mular aus, geht damit zur Kopierstel­le. Dort wird, nach Sichtung der zu kopierende­n Dokumente, ein Quotient ermittelt, der den Zustand des Materials und die Eile des Auftrags erfasst, woraus sich wiederum der Preis der Kopien ergibt, den man aber erst erfährt, wenn man diese Kopien nach zwei bis drei Monaten abholt.

1. Fortsetzun­g folgt

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