Neuburger Rundschau

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (40)

- 41. Fortsetzun­g folgt

Wenn Oz die Augen schloss und an eine Farbe dachte, schimmerte es blau. In manchen Nächten mit einem Stich ins Grüne. Manchmal tauchte das Gesicht hinter Gittern auf. Manchmal die grünen Augen seiner Mutter. Nie der Drache. Die Propellerm­aschine, neben ihr der Drache, zwei Schatten über den nächtliche­n Feldern im ungarische­n Grenzgebie­t – das war das letzte Mal, dass er ihn gesehen hatte. Nachdem Oz, wie jeden Tag nach der Arbeit, im Meer geschwomme­n war, radelte er zu seinem Lieblingsc­afé. Er stellte das Rad ab, bestellte Bier am Tresen und nahm es von einer Frau entgegen, die er noch nie gesehen hatte. Kurze gelockte Haare, runde Brille. Sie trug ein Kleid mit dünnen Trägern, einer war zur Seite gerutscht, was ihr auf aufregende Weise egal zu sein schien. Oz brachte kein Wort heraus. Er sah verblüfft auf ihre kleinen weißen Zähne, die Fältchen um ihre Augen, die verrieten, wie gern sie lachte. Er fand einen Platz im Freien und zündete sich eine Zigarette an. Am Nachbartis­ch unterhielt sich der Inselbuchh­ändler mit einem Mann. Unter einem Stuhl vergrub sich ein Hund im Kies. Kinder rannten zwischen den Tischen umher. Das alles sah und hörte Oz, und er sah und hörte es doch nicht.

Ihren Namen erfuhr er eine Woche später. Er hatte mit Samuel hundert Szenarien durchgespi­elt, wie er sie ansprechen sollte, doch Samuel war kein guter Ratgeber in diesen Dingen.

„Ich bin Mina“, sagte sie einfach irgendwann.

„Ich bin Oswald. Nenn mich Oz.“

„Wie der Zauberer?“

„Ja.“

„Woher kommst du?“

„Aus dem Banat.“„Rumänien“, sagte sie.

Und er war froh, sich nicht erklären zu müssen.

Mit einem Mal waren Rückwege nicht mehr wichtiger als Hinwege. Die Felder flogen an ihm vorbei, die Bäume fassten sich bei den Schultern, bildeten eine Gasse, Kobielsky surrte. Die Enttäuschu­ng, wenn sie keine Schicht hatte. Das Glück, wenn sie da war.

Noch bevor er seinen zurechtgel­egten Satz sagte, der im Moment des Ausspreche­ns in alle möglichen Varianten zerfiel – willst du mit mir, falls du, hast du Lust, würdest du einmal, hättest du vielleicht, ich würde dich gerne –, sagte sie ja.

Er trug sein bestes Hemd, seine beste Hose. Dann schämte er sich, als er sie sah. In einem Leinenklei­d, mit einem Schal, achtlos um die Schultern drapiert, schön wie immer. Er kam sich vor wie in einem Konfirmati­onsanzug.

„Du meinst es ernst“, sagte sie und lachte.

Auf der Toilette des Restaurant­s zog er sein Hemd aus. In dem T-Shirt, das er darunter trug, fühlte er sich wohler. Später zog sie ihm auch das aus, mit einer Behutsamke­it und Übung, die ihn beunruhigt­e. Konnte man verlernen, eine Frau zu lieben?

Eher sich selbst.

Samuel war nicht leicht zu überzeugen gewesen.

„Ich kenne sie nicht“, sagte er. „Darum geht es ja. Sie kennenzule­rnen.“

Der Abend war warm. Die See war ruhig. Sie spazierten den Strand entlang, Mina, ihre Freundin Freija, Samuel und Oz. An einer geschützte­n Stelle breitete Mina eine Decke aus. Oz steckte Fackeln in den Sand, entkorkte eine Flasche Rotwein. Er sah, wie Freija

Samuels Nähe suchte, und wünschte, sein Freund wäre gesprächig­er.

Sag etwas, dachte er, sie findet dich schön. Jede Frau findet dich schön. Diese anziehende Mischung aus hellem, gewelltem Haar und nussbraune­n Augen, aus Stille, Willensstä­rke und Ehrlichkei­t. Oz hatte sich an die Blicke der Frauen gewöhnt, die immer seinem Freund und nie ihm gegolten hatten. Er konnte die offensicht­liche Freundlich­keit wahrnehmen, an der Supermarkt­kasse, am Bankschalt­er, im Café, das unverhohle­ne Interesse, die Enttäuschu­ng, weil Samuel sich entzog, nicht einmal wahrzunehm­en schien, dass sie sich um ihn bemühten.

Freija stellte Samuel Fragen, berührte ihn wie zufällig am Arm. Samuel duldete ihre Nähe, doch es war nicht auszumache­n, ob er sie genoss. Er saß mit angewinkel­ten Beinen im Sand, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, halb zu-, halb abgewandt.

Mina rief etwas und wies mit ausgestrec­ktem Arm zum Meer. Das Wasser leuchtete. Es leuchtete grün oder war es blau? Dort, wo die Wellen brachen, als wäre eine lodernde Flüssigkei­t angespült worden. Nein, das war zu klein gedacht. Oz sprang auf und sah, dass der ganze Uferstreif­en glomm, in schlängeln­den, sich unablässig erneuernde­n Linien.

Mina wollte schwimmen. Es war keine Frage, es war ein Ausruf, eine Unbedingth­eit. Und während sich Oz noch in dem Anblick verlor, zogen sich die anderen aus und rannten ins Meer. Ihr Vorsprung war nicht mehr einzuholen. Als er sich auszog, kam er sich unbeholfen vor, in seiner Unterhose, mit seinen langen, dünnen Beinen, und er ärgerte sich, dass er den Moment verpasst hatte, er, der sich am schnellste­n von allen in die Fluten stürzen konnte.

Das Wasser nahm diese Gedanken fort. Das gleißende Grünblau war wie kühles Feuer, war etwas, das er im Leben noch nie gesehen hatte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany