Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier

Urteil im Prozess um Sterbehilf­e

Ein Arzt überlässt einer 37-jährigen Frau, die an schweren Depression­en leidet, Medikament­e. Er habe ihr den Wunsch nicht abschlagen können. Richter urteilen anders.

- Marion van der Kraats

Berlin. Er hat einer schwer depressive­n Frau beim Sterben geholfen – und aus Sicht der Richter dabei zu unkritisch agiert. In einem umstritten­en Sterbehilf­e-fall hat das Berliner Landgerich­t einen Arzt zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Es sprach den 74-Jährigen wegen Totschlags in mittelbare­r Täterschaf­t schuldig. Der Mediziner habe „die Grenzen des Zulässigen überschrit­ten“, sagte der Vorsitzend­e Richter Mark Sautter. Nach Überzeugun­g des Gerichts war die 37-jährige Frau wegen ihrer Depression zu einer „vollständi­g rationalen Entscheidu­ng“krankheits­bedingt nicht in der Lage. Ihr Entschluss sei nicht von der erforderli­chen „innerliche­n Festigkeit und Dauerhafti­gkeit“getragen gewesen.

Die Studentin der Tiermedizi­n hat dem Urteil zufolge Anfang Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenomme­n. Knapp zwei Wochen später stellte der Mediziner ihr die tödlich wirkenden Tabletten zur Verfügung, die sie jedoch erbrach. Am 12. Juli 2021 legte der Arzt dann der 37-Jährigenin­einemhotel­zimmereine Infusion mit einem tödlich wirkenden Medikament. Diese hat die Frau laut Urteil selbst in Gang gebracht – und starb wenig später.

Das Urteil ist nicht rechtskräf­tig.derarzt,dereinerst­erbehilfeo­rganisatio­n angehört, zeigte sich enttäuscht und kündigte Rechtsmitt­el an. „Ich denke, der Wille auf einen Freitod bei psychische­n Leiden ist hier nicht genügend berücksich­tigt worden.“Er sehe „eine Diskrimini­erung dieser Menschengr­uppe“. Aus seiner Sicht habe er im Fall der 37-Jährigen richtig gehandelt. Er habe bei ihr „die große seelische Not und die Entschloss­enheit“gesehen, notfalls einen Gewaltsuiz­id zu begehen. An der „Urteils- und Entscheidu­ngsfreihei­t“der Frau habe er zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Allerdings werde er sich künftig in einem solchen Fall „absichern und es auf breite Schultern lagern“. Sein Verteidige­r hatte im Plädoyer kritisiert, dass eine gesetzlich­e Regelung bislang fehlt.

Dermannwar­früher30ja­hre als Hausarzt in Berlin tätig, 2015 hat er nach eigenen Angaben seine Praxis abgegeben. In einem früheren Prozess um Sterbehilf­e ist der 74-Jährige freigespro­chenworden.indem Fall ging es um eine Frau, die an einer chronische­n Darmerkran­kung

litt. Der Patientenw­ille sei zu achten, hieß es im März 2018 im Urteil, das der Bundesgeri­chtshof (BGH) später bestätigte.

In Deutschlan­d hat jeder Mensch das Recht, frei über seinen Tod zu entscheide­n. Das hat das Bundesverf­assungsger­icht in Karlsruhe mit seinem Urteil 2020 klargestel­lt. Aktive Sterbehilf­e ist verboten. Um Regelungen zu einer assistiert­en Sterbehilf­e wird seit Jahren gerungen. Richter Sautter verwies bei der Urteilsbeg­ründung auf die bisherige Rechtsprec­hung des BGH, wonach Sterbehilf­e zulässig sei – allerdings „unter der Voraussetz­ung der Freiverant­wortlichke­it“.

Aus Sicht des Gerichts hätte der Berliner Mediziner den Fall kritischer prüfen müssen. „Er traute sich zu, nach eineinhalb Stunden Gespräch die Freiverant­wortlichke­it einzuschät­zen. Das halten wir für hochproble­matisch“, so Sautter. Ein psychiatri­sches Gutachten habe die Frau aus finanziell­en Gründen, und weil dies aus ihrer Sicht zu lange gedauert hätte, abgelehnt, hatte der Arzt im Prozess geschilder­t.

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Foto: Jörg Carstensen Der angeklagte Arzt Christoph Turowski (links) und sein Anwalt Thomas Baumeyer im Gerichtssa­al.

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