Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier
Pornografie im Klassenchat
Eigentlich sollte das neue Gesetz die Opfer besser schützen. Doch jetzt können auch Eltern oder Lehrer, die mit Nacktfotos auf Handys ihrer Schutzbefohlenen umgehen müssen, zu Tätern werden.
Kreis Minden-Lübbecke. Finger weg von Kinderpornos: Das entsprechende Gesetz trifft nicht nur Pädokriminelle, sondern kann auch jene zu Straftätern werden lassen, die eigentlich gegen diese Inhalte vorgehen wollen. Lehrerinnen zum Beispiel, die Videos und Bilder auf Handys von Schülern finden und an die Schulsozialarbeiterin oder die Eltern weitersenden, um darüber zu reden – so im Westerwald geschehen. Eltern, die Inhalte auf dem Laptop der Kinder sehen und sie beispielsweise per E-Mail an die Polizei weiterleiten. Schüler, die in Whatsapp-Gruppen Fotos oder auch Memes austauschen – was übrigens einer der Gründe ist, warum in der bundesweiten Polizeistatistik die Zahl der Straftaten von Jugendlichen steigen.
Erst 2021 wurde die rechtliche Regelung verschärft. „Gut gemeint, aber nicht zu Ende gedacht“, sagt Kriminalkommissar Dietmar Haupt. Er ist bei der Polizei Minden-Lübbecke für dieses Sachgebiet zuständig. Der Gesetzgeber hat die breite Kritik inzwischen aufgenommen, eine Reform der Reform ist in Arbeit.
„Bei Kinderpornografie denken viele in erster Linie an die für Kinder potenziell gefährliche Pädophilie“, sagt Haupt. Doch in der Praxis macht der Polizei das sehr viel Arbeit, was Haupt unter „JuxVideos“zusammenfasst – Darstellungen, die Jugendliche lustig finden und sich zusenden. Der Inhalt ist zwar als kinderpornografisch zu klassifizieren, die Täter aber sind keine Pädo-Kriminellen. „Man kann sicher darüber streiten, ob das lustig ist oder geschmacklos, aber dieses sind keine böswilligen Menschen.“
„Diese Jugendlichen haben meist überhaupt kein Unrechtsbewusstsein“, sagt Kriminalhauptkommissarin Birgit Thinnes – und sie hätten keine Vorstellung, wie hart der Gesetzgeber das verfolgt. Sie arbeitet an Schulen mit Jugendlichen, klärt auf, berät, diskutiert. Vor der Gesetzesreform konnten solche Fälle als Vergehengewertetwerden.Seit 2021 ist das alles ein Verbrechen. Das heißt auch: Die Staatsanwaltschaft kann Verfahren nicht einfach wegen Geringfügigkeit einstellen, selbst wenn eigentlich eindeutig ist, dass es gar nicht um Verbreitung, sondern nur um Sicherung der Inhalte ging.
Genau das ist aber bei Eltern und Lehrern meist die erste Reaktion: Bedenkliches beispielsweise vom Handy der Kinder auf das eigene weiterzuleiten, um es dann anderen Eltern oder Lehrern zu zeigen und zu besprechen oder an die Polizei zu schicken. Damit jedoch machen sie sich strafbar.
Kommt es denn in der Praxis oft vor – beziehungsweise wird der Polizei oft bekannt, wenn Erziehungspersonen Nacktfotos sichern? Tatsächlich nicht, sagt Haupt. Dennoch machen diese vermeintlich„spaßigen“Fotosdendeutschen Behörden eine solche Menge an Arbeit, dass die echten Verfahren gegen Pädokriminelle Gefahr laufen, darunter begraben zu werden. Und das liegt an speziellen Gesetzen in den USA.
„Die meisten unserer Ermittlungsverfahren kommen ausdenUSA.“Dienstleisterwie Facebook, Instagram oder Whatsapp sind dort verpflichtet, kinderpornografische Verdachtsfälle an eine halbstaatliche Kinderschutzorganisation zu melden. Das ist das National Center for Missing and Exploited Children, kurz NCMEC. Diese wendet sich dann an die jeweils zuständigen Behörden in den Ländern, wo das betreffende Bild hochgeladen wurde.
In Deutschland wird also das Bundeskriminalamt eingeschaltet, das seinerseits die Verfahren an die Landeskriminalämter weitergibt. „Die machen erste Ermittlungen und stellen in der Regel auch fest, von welchem Anschluss aus das gesendet wurde“, so Haupt. „Wir bekommen dann in der Regel eine Ermittlungsakte mit einem Durchsuchungsbeschluss.“
„Manchmal möchte man den Glauben an die Menschheit verlieren“
Weil solche Hinweise zu Abertausenden aus den USA kommen, werden die örtlichen Polizeibehörden überflutet. „Wir haben einen Riesenrückstand, den wir nur sehr mühselig und mit hohem Personalaufwand abarbeiten können – auch hier in MindenLübbecke.“Wohlgemerkt: All das sind Verdachtsfälle.
Wenn die Fotos von unter 14-Jährigen verteilt wurden, ist die Polizei gehalten, sogenannte „erzieherische Gespräche“zu führen. Das sind im Schnitt zwei bis drei pro Monat – bei Verfahren, die eingestellt wurden. Für alle über 14 gilt: Sie haben eine Straftat begangen und werden nach Jugendstrafrecht verfolgt. Und das sind deutlich mehr.
Wenn diese Akten auf den Tisch von Haupt und seinen Kollegen kommen, ist zunächst nicht klar, ob es sich um Fotos handelt, die über die Sozialen Medien verbreitet sind und die die Beamten immer und immer wieder zu sehen bekommen, oder ob hier echte Pädokriminelle erwischt wurden. „Die echten Kriminellen, die interessieren sich für solche Juxbilder überhaupt nicht. Echte Kinderpornografie verteilt in der Regel keiner über Whatsapp-Gruppen, sondern im Darknet.“
Bis vor Kurzem war das anders – da fühlten sich diejenigen, die entsprechende Inhalte mögen, noch bei Whatsapp oder Telegram sicher. Das waren dann jeweils umfangreiche Verfahren – der ganze Chat mussausgewertetundgegenalle
Kriminalhauptkommissarin Birgit Thinnes.
Teilnehmer Folgeverfahren eingeleitet werden. Die Beweissicherung kann so Monate dauern.
Nicht jedes nackte Kind im Bild ist automatisch Kinderpornografie. Tausende von Darstellungen werden bei der Polizei gesichtet. „Pornografisch wird ein Foto dann, wenn der Fokus der Aufnahme auf den Geschlechtsteilen oder auch dem Gesäß liegt oder das Kind eine unnatürlich sexualisierte Körperhaltung einnimmt. Dafür muss das Kind noch nicht einmal vollständig entkleidet sein“, so Haupt. Fotos mit dem Nachwuchs in der Badewanne seien daher weiter unproblematisch.
Meldungen bekommt die Polizei aber hin und wieder, wenn muslimische Familien Fotos vom Beschneidungsfest gemacht haben, mit Fokus auf den zentralen Moment. Das wären nach der Definition dann kinderpornografische Bilder – „ohne dass die auch nur ansatzweise kinderpornografisch gemeint sind.“
Doch wenn die Kriminalbeamten bei Ermittlungen gegen mutmaßliche Pädokriminelle beispielsweise Festplatten durchsuchen und Zehntausende Bilder sichten, müssen sie mit allem rechnen. Viel Material wird immer und immer wieder weitergegeben und ist daher längst bekannt. Haupt: „Mittlerweile dürfte ich eigentlich fast alle, zumindest die ganz schlimmen Filme, die es gibt, gesehen haben. Aber natürlich werden immer wieder neue produziert.“Seit die Täter ins Darknet
abwandern, kommen Ermittler nicht oder nur mit großem Aufwand daran.
Wie halten die Ermittler das aus, ständig solche Szenen ansehen und bewerten zu müssen? Zum einen mit Routine. „Aber die richtig harten kinderpornografischen Filme, die schwere sexuelle Missbräuche teilweise noch an Säuglingen zeigen, das ist wirklich verstörend“, sagt Haupt. „Manchmal muss man sich Sachen ansehen, da möchte man den Glauben an die Menschheit verlieren.“
Birgit Thinnes hat es in ihrem Berufsalltag kaum mit „echter“Kinderpornografie zu tun, dafür aber viel mit gedankenund herzlos erstellen Inhalten. Mutproben – „Challenges“–, bei denen die Kinder Fotos verschicken, Schnappschüsse unter Toilettentüren hinweg beispielsweise oder aufreizende Selfies. Gerade die Mädchen machten Nacktfotos „mit einer Selbstverständlichkeit, das ist manchmal verstörend.“Jedes Mal, wenn Thinnes in Schulen und anderen Einrichtungen eingeladen ist, um über Gefahren für Kinder und Jugendliche aufzuklären und zu informieren, spricht sie auch dieses Thema an. Was nicht immer leicht ist, gerade in 5. und 6. Klassen soll keiner überfordert werden. Zugleich gilt es, Warnungen klar auszusprechen – wie die über die perfide Vorgehensweise von vermeintlichen Internet- „Freunden“. Die behaupten dann, 17 zu sein, sind in Wirklichkeit aber 67.
Die Grenze zur Kinderpornografie ist rechtlich schnell erreicht
Leider kämen zu den Veranstaltungen oft nur jene Eltern, die sich sowieso schon mit dem Thema beschäftigt haben. Darum wird Thinnes auch gerne zu Elternabenden eingeladen, wo sie dann neben den anderen Themen auch über ihre Anliegen informieren kann.
Eine ihrer wichtigen Nachrichten: Die Grenze zur Kinderpornografie ist rechtlich gesehen viel schneller erreicht, als jeder denkt. „Darum ist Prävention so wichtig und dass man aufklärt.“Was sie auch empfiehlt: Wer in einer Chatgruppe ist, in der sexualisierte Kinderfotos gezeigt werden – vielleicht, weil jemand das lustig findet –, der sollte deutlich in die Gruppe schreiben, dass er das nicht akzeptabel findet. Abgesehen von allem anderen: Ermittler werten Chats aus.
Eins sagt Thinnes auch: So schwierig es auch fallen mag – Erziehungspersonen sollten es nicht auf sich beruhen lassen, wenn sie bei ihren Schutzbefohlenen bedenkliche Inhalte entdecken. Denn nur, wenn man darüber redet, gibt es mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Thema.
Insgesamt sei die Gesellschaft da schon ein gutes Stück weiter als vor wenigen Jahrzehnten, ergänzt Haupt. Ein Film wie ,Bilitis‘ beispielsweise mit weichgezeichnetem Teenager-Softsex wäre heute nicht mehr machbar. Die Schauspielerin Nastassja Kinski verlangte Jahrzehnte später eine Entschuldigung für die Nacktszenen, die sie als 15-Jährige für den „Tatort“drehte. Spencer Elden, dessen nacktes Babyfoto auf dem Plattencover „Nevermind“von Nirwana zu sehen ist, verlangt Entschädigung wegen Kinderpornografie.
In Deutschland bemüht sich der Gesetzgeber gerade darum, den Strafverfolgungsbehörden das nötige und richtige Werkzeug an die Hand zu geben und das Strafmaß anzupassen.
Wird Künstliche Intelligenz mal beim Auswerten helfen und dabei, echte Täter schneller zu identifizieren? Zum Teil, sagt Haupt. Andererseits kann KI auch dazu genutzt werden, neue kinderpornografische Inhalte in großer Menge zu erstellen. Und das wird die Ermittler dann noch vor ganz neue Herausforderungen stellen.
Die Opferschutzbeauftragte ist Birgit Thinnes, sie ist unter der Telefonnummer (0571) 8866-4700 erreichbar. Die Polizei bietet zu diesem Themenbereich unter anderem Vorträge zu Gefahren im Internet. Sie gibt auch Tipps zum Umgang mit Kinderfotos im Internet.