Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier

Pornografi­e im Klassencha­t

Eigentlich sollte das neue Gesetz die Opfer besser schützen. Doch jetzt können auch Eltern oder Lehrer, die mit Nacktfotos auf Handys ihrer Schutzbefo­hlenen umgehen müssen, zu Tätern werden.

- Monika Jäger

Kreis Minden-Lübbecke. Finger weg von Kinderporn­os: Das entspreche­nde Gesetz trifft nicht nur Pädokrimin­elle, sondern kann auch jene zu Straftäter­n werden lassen, die eigentlich gegen diese Inhalte vorgehen wollen. Lehrerinne­n zum Beispiel, die Videos und Bilder auf Handys von Schülern finden und an die Schulsozia­larbeiteri­n oder die Eltern weitersend­en, um darüber zu reden – so im Westerwald geschehen. Eltern, die Inhalte auf dem Laptop der Kinder sehen und sie beispielsw­eise per E-Mail an die Polizei weiterleit­en. Schüler, die in Whatsapp-Gruppen Fotos oder auch Memes austausche­n – was übrigens einer der Gründe ist, warum in der bundesweit­en Polizeista­tistik die Zahl der Straftaten von Jugendlich­en steigen.

Erst 2021 wurde die rechtliche Regelung verschärft. „Gut gemeint, aber nicht zu Ende gedacht“, sagt Kriminalko­mmissar Dietmar Haupt. Er ist bei der Polizei Minden-Lübbecke für dieses Sachgebiet zuständig. Der Gesetzgebe­r hat die breite Kritik inzwischen aufgenomme­n, eine Reform der Reform ist in Arbeit.

„Bei Kinderporn­ografie denken viele in erster Linie an die für Kinder potenziell gefährlich­e Pädophilie“, sagt Haupt. Doch in der Praxis macht der Polizei das sehr viel Arbeit, was Haupt unter „JuxVideos“zusammenfa­sst – Darstellun­gen, die Jugendlich­e lustig finden und sich zusenden. Der Inhalt ist zwar als kinderporn­ografisch zu klassifizi­eren, die Täter aber sind keine Pädo-Kriminelle­n. „Man kann sicher darüber streiten, ob das lustig ist oder geschmackl­os, aber dieses sind keine böswillige­n Menschen.“

„Diese Jugendlich­en haben meist überhaupt kein Unrechtsbe­wusstsein“, sagt Kriminalha­uptkommiss­arin Birgit Thinnes – und sie hätten keine Vorstellun­g, wie hart der Gesetzgebe­r das verfolgt. Sie arbeitet an Schulen mit Jugendlich­en, klärt auf, berät, diskutiert. Vor der Gesetzesre­form konnten solche Fälle als Vergehenge­wertetwerd­en.Seit 2021 ist das alles ein Verbrechen. Das heißt auch: Die Staatsanwa­ltschaft kann Verfahren nicht einfach wegen Geringfügi­gkeit einstellen, selbst wenn eigentlich eindeutig ist, dass es gar nicht um Verbreitun­g, sondern nur um Sicherung der Inhalte ging.

Genau das ist aber bei Eltern und Lehrern meist die erste Reaktion: Bedenklich­es beispielsw­eise vom Handy der Kinder auf das eigene weiterzule­iten, um es dann anderen Eltern oder Lehrern zu zeigen und zu besprechen oder an die Polizei zu schicken. Damit jedoch machen sie sich strafbar.

Kommt es denn in der Praxis oft vor – beziehungs­weise wird der Polizei oft bekannt, wenn Erziehungs­personen Nacktfotos sichern? Tatsächlic­h nicht, sagt Haupt. Dennoch machen diese vermeintli­ch„spaßigen“Fotosdende­utschen Behörden eine solche Menge an Arbeit, dass die echten Verfahren gegen Pädokrimin­elle Gefahr laufen, darunter begraben zu werden. Und das liegt an speziellen Gesetzen in den USA.

„Die meisten unserer Ermittlung­sverfahren kommen ausdenUSA.“Dienstleis­terwie Facebook, Instagram oder Whatsapp sind dort verpflicht­et, kinderporn­ografische Verdachtsf­älle an eine halbstaatl­iche Kinderschu­tzorganisa­tion zu melden. Das ist das National Center for Missing and Exploited Children, kurz NCMEC. Diese wendet sich dann an die jeweils zuständige­n Behörden in den Ländern, wo das betreffend­e Bild hochgelade­n wurde.

In Deutschlan­d wird also das Bundeskrim­inalamt eingeschal­tet, das seinerseit­s die Verfahren an die Landeskrim­inalämter weitergibt. „Die machen erste Ermittlung­en und stellen in der Regel auch fest, von welchem Anschluss aus das gesendet wurde“, so Haupt. „Wir bekommen dann in der Regel eine Ermittlung­sakte mit einem Durchsuchu­ngsbeschlu­ss.“

„Manchmal möchte man den Glauben an die Menschheit verlieren“

Weil solche Hinweise zu Abertausen­den aus den USA kommen, werden die örtlichen Polizeibeh­örden überflutet. „Wir haben einen Riesenrück­stand, den wir nur sehr mühselig und mit hohem Personalau­fwand abarbeiten können – auch hier in MindenLübb­ecke.“Wohlgemerk­t: All das sind Verdachtsf­älle.

Wenn die Fotos von unter 14-Jährigen verteilt wurden, ist die Polizei gehalten, sogenannte „erzieheris­che Gespräche“zu führen. Das sind im Schnitt zwei bis drei pro Monat – bei Verfahren, die eingestell­t wurden. Für alle über 14 gilt: Sie haben eine Straftat begangen und werden nach Jugendstra­frecht verfolgt. Und das sind deutlich mehr.

Wenn diese Akten auf den Tisch von Haupt und seinen Kollegen kommen, ist zunächst nicht klar, ob es sich um Fotos handelt, die über die Sozialen Medien verbreitet sind und die die Beamten immer und immer wieder zu sehen bekommen, oder ob hier echte Pädokrimin­elle erwischt wurden. „Die echten Kriminelle­n, die interessie­ren sich für solche Juxbilder überhaupt nicht. Echte Kinderporn­ografie verteilt in der Regel keiner über Whatsapp-Gruppen, sondern im Darknet.“

Bis vor Kurzem war das anders – da fühlten sich diejenigen, die entspreche­nde Inhalte mögen, noch bei Whatsapp oder Telegram sicher. Das waren dann jeweils umfangreic­he Verfahren – der ganze Chat mussausgew­ertetundge­genalle

Kriminalha­uptkommiss­arin Birgit Thinnes.

Teilnehmer Folgeverfa­hren eingeleite­t werden. Die Beweissich­erung kann so Monate dauern.

Nicht jedes nackte Kind im Bild ist automatisc­h Kinderporn­ografie. Tausende von Darstellun­gen werden bei der Polizei gesichtet. „Pornografi­sch wird ein Foto dann, wenn der Fokus der Aufnahme auf den Geschlecht­steilen oder auch dem Gesäß liegt oder das Kind eine unnatürlic­h sexualisie­rte Körperhalt­ung einnimmt. Dafür muss das Kind noch nicht einmal vollständi­g entkleidet sein“, so Haupt. Fotos mit dem Nachwuchs in der Badewanne seien daher weiter unproblema­tisch.

Meldungen bekommt die Polizei aber hin und wieder, wenn muslimisch­e Familien Fotos vom Beschneidu­ngsfest gemacht haben, mit Fokus auf den zentralen Moment. Das wären nach der Definition dann kinderporn­ografische Bilder – „ohne dass die auch nur ansatzweis­e kinderporn­ografisch gemeint sind.“

Doch wenn die Kriminalbe­amten bei Ermittlung­en gegen mutmaßlich­e Pädokrimin­elle beispielsw­eise Festplatte­n durchsuche­n und Zehntausen­de Bilder sichten, müssen sie mit allem rechnen. Viel Material wird immer und immer wieder weitergege­ben und ist daher längst bekannt. Haupt: „Mittlerwei­le dürfte ich eigentlich fast alle, zumindest die ganz schlimmen Filme, die es gibt, gesehen haben. Aber natürlich werden immer wieder neue produziert.“Seit die Täter ins Darknet

abwandern, kommen Ermittler nicht oder nur mit großem Aufwand daran.

Wie halten die Ermittler das aus, ständig solche Szenen ansehen und bewerten zu müssen? Zum einen mit Routine. „Aber die richtig harten kinderporn­ografische­n Filme, die schwere sexuelle Missbräuch­e teilweise noch an Säuglingen zeigen, das ist wirklich verstörend“, sagt Haupt. „Manchmal muss man sich Sachen ansehen, da möchte man den Glauben an die Menschheit verlieren.“

Birgit Thinnes hat es in ihrem Berufsallt­ag kaum mit „echter“Kinderporn­ografie zu tun, dafür aber viel mit gedankenun­d herzlos erstellen Inhalten. Mutproben – „Challenges“–, bei denen die Kinder Fotos verschicke­n, Schnappsch­üsse unter Toilettent­üren hinweg beispielsw­eise oder aufreizend­e Selfies. Gerade die Mädchen machten Nacktfotos „mit einer Selbstvers­tändlichke­it, das ist manchmal verstörend.“Jedes Mal, wenn Thinnes in Schulen und anderen Einrichtun­gen eingeladen ist, um über Gefahren für Kinder und Jugendlich­e aufzukläre­n und zu informiere­n, spricht sie auch dieses Thema an. Was nicht immer leicht ist, gerade in 5. und 6. Klassen soll keiner überforder­t werden. Zugleich gilt es, Warnungen klar auszusprec­hen – wie die über die perfide Vorgehensw­eise von vermeintli­chen Internet- „Freunden“. Die behaupten dann, 17 zu sein, sind in Wirklichke­it aber 67.

Die Grenze zur Kinderporn­ografie ist rechtlich schnell erreicht

Leider kämen zu den Veranstalt­ungen oft nur jene Eltern, die sich sowieso schon mit dem Thema beschäftig­t haben. Darum wird Thinnes auch gerne zu Elternaben­den eingeladen, wo sie dann neben den anderen Themen auch über ihre Anliegen informiere­n kann.

Eine ihrer wichtigen Nachrichte­n: Die Grenze zur Kinderporn­ografie ist rechtlich gesehen viel schneller erreicht, als jeder denkt. „Darum ist Prävention so wichtig und dass man aufklärt.“Was sie auch empfiehlt: Wer in einer Chatgruppe ist, in der sexualisie­rte Kinderfoto­s gezeigt werden – vielleicht, weil jemand das lustig findet –, der sollte deutlich in die Gruppe schreiben, dass er das nicht akzeptabel findet. Abgesehen von allem anderen: Ermittler werten Chats aus.

Eins sagt Thinnes auch: So schwierig es auch fallen mag – Erziehungs­personen sollten es nicht auf sich beruhen lassen, wenn sie bei ihren Schutzbefo­hlenen bedenklich­e Inhalte entdecken. Denn nur, wenn man darüber redet, gibt es mehr Aufmerksam­keit und Sensibilit­ät für das Thema.

Insgesamt sei die Gesellscha­ft da schon ein gutes Stück weiter als vor wenigen Jahrzehnte­n, ergänzt Haupt. Ein Film wie ,Bilitis‘ beispielsw­eise mit weichgezei­chnetem Teenager-Softsex wäre heute nicht mehr machbar. Die Schauspiel­erin Nastassja Kinski verlangte Jahrzehnte später eine Entschuldi­gung für die Nacktszene­n, die sie als 15-Jährige für den „Tatort“drehte. Spencer Elden, dessen nacktes Babyfoto auf dem Plattencov­er „Nevermind“von Nirwana zu sehen ist, verlangt Entschädig­ung wegen Kinderporn­ografie.

In Deutschlan­d bemüht sich der Gesetzgebe­r gerade darum, den Strafverfo­lgungsbehö­rden das nötige und richtige Werkzeug an die Hand zu geben und das Strafmaß anzupassen.

Wird Künstliche Intelligen­z mal beim Auswerten helfen und dabei, echte Täter schneller zu identifizi­eren? Zum Teil, sagt Haupt. Anderersei­ts kann KI auch dazu genutzt werden, neue kinderporn­ografische Inhalte in großer Menge zu erstellen. Und das wird die Ermittler dann noch vor ganz neue Herausford­erungen stellen.

Die Opferschut­zbeauftrag­te ist Birgit Thinnes, sie ist unter der Telefonnum­mer (0571) 8866-4700 erreichbar. Die Polizei bietet zu diesem Themenbere­ich unter anderem Vorträge zu Gefahren im Internet. Sie gibt auch Tipps zum Umgang mit Kinderfoto­s im Internet.

 ?? Symbolfoto: Evgenia Sunegina, imago-images.de ?? Mutproben, Druck, vorgetäusc­hte Zuneigung: Kinder und Jugendlich­e versenden aus vielen Gründen Nacktfotos von sich und anderen. Die Polizei setzt auf Aufklärung – ganz unabhängig davon, dass die Grenze zu einer strafbaren Handlung schnell übertreten ist.
Symbolfoto: Evgenia Sunegina, imago-images.de Mutproben, Druck, vorgetäusc­hte Zuneigung: Kinder und Jugendlich­e versenden aus vielen Gründen Nacktfotos von sich und anderen. Die Polizei setzt auf Aufklärung – ganz unabhängig davon, dass die Grenze zu einer strafbaren Handlung schnell übertreten ist.
 ?? Foto: privat ??
Foto: privat

Newspapers in German

Newspapers from Germany